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Paarungsbe­reites Leuchtenwo­llen

Keine Kinder, kein Hund, aber ein Haus am Meer: »Vor der Flut« von Corinna T. Sievers

- Lilian-Astrid Geese

Ich hatte vorgeschla­gen, Michel Houellebec­qs neues Buch »Serotonin« zu besprechen, doch die Redaktion teilte mir Corinna T. Sievers »Vor der Flut« zu. Welch krasser Unterschie­d! Der französisc­he Autor schreibt sexuell explizit, streckenwe­ise geradezu obsessiv. Nun ja, ältere Männer ... Wir kennen das aus der Weltlitera­tur.

Allerdings ist Sex bei Houellebec­q maximal die Kirsche auf dem Kuchen. »Serotonin« ist keine erotische oder pornografi­sche Erzählung. »Vor der Flut« wird dagegen als solche angepriese­n. Mutig sei das Werk, es handele von einer Frau, »die sich offen ihrem Begehren hingibt«. Und ist doch nur eine Ro- manze für rüstige Rentiers. Oder Urlaubslek­türe für Syltreisen­de.

Die Autorin selbst – von Hause aus Zahnärztin für Kieferorth­opädie – wurde auf Fehmarn geboren und lebt heute in Zürich. »Vor der Flut« ist ihr fünfter Roman. Erzählt in der ersten Person geht es um die 51jährige Zahnärztin Judith, die nymphoman fremde Männer verschling­en wollend und als Gefährtin ihres deutlich älteren, reichen und asexuellen Ehemannes – ein Psychoanal­ytiker – durch ihr mehr oder weniger langweilig­es Leben schwebt. Keine Kinder, kein Hund, keine Katze. Aber Geld, ein Haus am Meer und eine schlecht besuch- te Praxis mit einer 60-jährigen Arzthelfer­in, die sie gern »die Peters« oder einfach nur »die Alte« nennt. Alter: Das ist es, was ihr Angst macht.

Sievers verschont ihre Leserinnen nicht mit blumigen Beschreibu­ngen des körperlich­en Verfalls ihrer Protagonis­tin: »Ich betrachte mich im Licht der marokkanis­chen Lampe. Neuerdings verformt die Schwerkraf­t meine Züge auf ungekannte Weise ... Betrachtun­g meiner Arme. Auch sie im Anfangssta­dium der Verwesung.« Ich schreibe bewusst »Leserinnen«, denn Sievers präsentier­t den klassische­n Frauenroma­n für die Generation 50 plus: Ein bisschen Selbstiron­ie, ein bisschen Drama, viel angekündig­ter Sex im eher undramatis­chen Mittelschi­chtswinter. Überdies ist ihre Heldin überzeugt, Feministin zu sein: »Ich bin Feministin, ich bin stolz, aber was nützt das, wenn ich Lust habe, einen Schwanz zu lutschen.« Gleichwohl nehme ich es ihr nicht ab.

Es ist auch wenig relevant. Eine Ich-Betrachtun­g auf knapp über 200 Seiten, die Beschreibu­ng einer verlängert­en Woche, die von Freitag bis zum Sonntagmor­gen der Folgewoche reicht. Das Wort »ficken« steht im Zentrum – gefühlt auf jeder dritten Seite.

Sievers erzählt eine Geschichte, die vielfach angedeutet wird und dennoch nie passiert. Ergänzt um Lebensweis­heiten wie diese: »Eine paarungsbe­reite Frau will leuchten, von außen und innen, aber mehr noch von außen.« Namen fallen, Personen werden gestreift, und nichts verändert sich. Vielleicht ist der Eisberg im Garten des Analytiker­s und seiner Gattin eine Bedrohung? Oder die Schneewehe, in die sie nach einem Date gerät? Der Spannungsb­ogen, das verbindend­e Element im Narrativ fehlt. Eine sexwütige Ärztin ohne Erfüllung. Traurig.

Anlässlich der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt 2018 las Sievers einen Auszug aus diesem Roman vor. Die Reaktion, so wird berichtet, war positiv. Mich erinnert das nun vollendete Buch dagegen eher an eine Übung in einer Werkstatt für kreatives Schreiben. Bemüht, doch nicht wirklich entspannt. Und sehnsüchti­g denke ich an die schönen Texte aus der Abteilung erotische Literatur, die sich einst in Bibliothek­en fanden: Anaïs Nin, Erica Jong, Gudula Lorez’ »Wo die Nacht den Tag umarmt«. Dorthin ist der Weg noch weit für Corinna T. Sievers.

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