Die Stadt der Traurigen
Alltag mit der Apokalypse: Im Roman »Miami Punk« verschwindet das Meer
Katastrophen gebärden sich am verheerendsten, wenn sie ignoriert werden und alles irgendwie weiterläuft. Als Krisen-Management, das jede Utopie verbannt. »Kapitalistischen Realismus« nannte der Kulturtheoretiker Marc Fisher diesen Zustand, in dem sich das Gefühl von Alternativlosigkeit als eine bleierne Melancholie niederschlägt.
Das entspricht der gespenstischen Stimmung in der Küstenmetropole, die Juan S. Guse in »Miami Punk« skizziert. Vor Miami hat sich der Atlantik wie ein »abgerissenes Stück Haut« zusammengezogen. Über die Ursachen rätseln Forscher und Bewohner. Während die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen in der Stadt katastrophal sind. Die mysteriöse Ausgangshandlung erinnert an Filme wie Alfonso Cuaróns »Children of Men«, in dem eine plötzliche Unfruchtbarkeit der Frauen eine Endzeitstimmung auslöst, oder an den Roman »Die Stadt der Blinden«, an den Guse einen seiner zahlreichen Protagonisten denken lässt: »Der Zustand der Stadt erinnerte mich an die Prosa José Saramagos, der manchmal nur eine einzige Grundvariable der Welt veränderte: Was, wenn Blindheit ansteckend ist? Was, wenn Portugal plötzlich von der Iberischen Halbinsel abdriften würde?«
Ja, »Miami Punk« erweitert diese Grundvariable: Was geschieht mit einer Küstenmetropole, wenn das Meer verschwindet? Und wie reagieren die Bewohner? Mit der Einrichtung von eskapistischen Komfortzonen oder mit kollektivem Widerstand, wie ihn die titelgebende Untergrundgruppe plant? Um solche Fragen drehte sich bereits Juan S. Guses Debütroman »Lärm und Wälder«: Den Kol- laps des kapitalistischen Systems spürte der Autor in der Paranoia ihrer Bürger auf, die sich nach dem zivilisatorischen Zusammenbruch durch den Krieg aller gegen alle winden. Die Apokalypse hinter sich, den Alltag vor sich.
So auch in diesem dystopischen Gesellschaftspanoptikum: Der Meeresrückgang sorgt für eine Schließung des Hafens und Massenkündigungen. Doch die Bevölkerung reagiert mit Realitätsverweigerung und pilgert somnambul zur einstigen Arbeitsstätte. Das Leben folgt einem Takt aus Traum und Gewalt: Todesschwadronen attackieren sogenannte Triebtäter- kolonien. Ringervereine organisieren sich, um paramilitärisch beim staatlichen Gewaltmonopol auszuhelfen. Und auf den Straßen bewegen sich Alligatoren, während staatliche Luftschiffe über den braun gefärbten Himmel kreuzen, um einen Kongress zu überwachen, auf dem sich militante Aktivisten subversiv austauschen. Ohnmacht, Terroris- mus, Nihilismus: Juan S. Guse spinnt diese Endzeit-Szenarien zu einem postapokalyptischen Pandämonium, das wie ein überbordender SciFi-Blockbuster vor dem inneren Auge abläuft. Eine rätselhafte wie düstere Parabel über die Sinnleere einer postindustriellen Ära.
Meist auktorial verknüpft Guse die Episoden der zahlreichen Protagonisten, die ein Dostojewski’sches Personenregister ergeben: Da ist die Indie-Game-Programmiererin Robin, die an einer virtuellen Utopie tüftelt, in der sich User verlieren können. Da ist die Kongressaktivistin und Pizzalieferantin Ana O., die trotz eines fehlenden »n« mit ihrem Namen an Freuds berühmte Patientin erinnert, was zum traumwandlerischen Zustand passt, in dem alle durch diese Weltuntergangskulisse taumeln. Und da ist schließlich ein ESport-Team aus Wuppertal, dessen Counter-Strike-Turnierteilnahme aus der Sicht eines namenlosen Ich-Erzählers geschildert wird. Ebendieser Soziologe elaboriert an einer Habilitation über Novalis’ »Poetischen Staat«. Wie lässt sich die Politik retten, etwa durch Kunst? Das ist die Fragestellung seiner Arbeit, die auch immer wieder als Romanmotiv auftaucht.
So lässt Guse etwa Kongressteilnehmer ein Dialogduell ausfechten, in dem es um emanzipatorische Perspektiven gehen soll. Einer der Aktivisten hält sich für Ernst Bloch und serviert utopische Thesen, die an »Das Prinzip Hoffnung« anknüpfen. Doch im Koma aus Konsum und der betäubenden Ohnmacht einer komplexen Endzeitgesellschaft stößt das auf taube Ohren: »Ach Bloch, komm, iss noch eine Gewürzgurke.«