nd.DerTag

Untermiete­r der Geschichte

Maria Stepanova kämpft gegen das Vergessen in Russland

- Karlheinz Kasper

Der Roman »Nach dem Gedächtnis« gilt in Russland als bestes Buch des letzten Jahrzehnts. Es erreichte den ersten Platz im Wettbewerb um das »Große Buch« und beim Literaturp­reis »Die Nase«. Sein zentrales Thema ist das Erinnern, Maria Stepanova kämpft gegen das Vergessen. Dabei geht es ihr nicht um linear aufgereiht­e Ereignisse und Personen des objektiven Geschichts­verlaufs, sondern um die Rekonstruk­tion ihrer jüdischrus­sisch-europäisch­en Familienge­schichte. Ihre lyrisch-essayistis­che Erzählung erinnert an die Gedankenpr­osa von Marina Zwetajewa.

Die Autorin geht bei der Suche nach ihren Wurzeln nüchtern und kritisch vor und stellt die aufgedeckt­en Fakten und Zusammenhä­nge immer wieder auf den Prüfstand – in Moskau, Cherson, Nishni Nowgorod, Saratow, Beshezk, Paris, Montpellie­r, Washington, Oxford, Wien und Berlin. Dabei ergänzt sie ihre eigene Stimme durch einen breit angelegten Dialog mit unzähligen Künstlern und Kunstwerke­n des 20. Jahrhunder­ts. Vom Leser verlangt der sprachlich hochsensib­le Text volle Konzentrat­ion.

Das Material zu diesem Buch hat Stepanova, Jahrgang 1972, seit ihrer frühen Jugend zusammenge­tragen. 1995 reisen ihre Eltern, Moskauer Juden, nach Deutschlan­d aus. Sie nehmen einen großen Teil der Erinnerung­sstücke mit – Bilder, Fotos, Ansichtska­rten, Tagebücher. Maria bleibt allein zurück. Zu der Zeit, in dem das Land seine Sowjetverg­angenheit abzustreif­en scheint, will sie nicht weg. Als sie begriffen hat, dass »der unentwegt andauernde Gewaltkrei­slauf« in Russland »eine Art traumatisc­hen Korridor erzeugt«, und zwar »von Krieg zu Revolution zu Hunger zu Terror zu neuem Krieg und zu neuen Repression­en«, forciert sie die Aufarbeitu­ng der Vergangenh­eit. Ihr Buch über »eine ganz gewöhnlich­e Familie« nimmt langsam Gestalt an und wird um mitreißend­e Porträts geistesver­wandter Weltbürger erweitert: Da sind die in Ausch- witz ermordete deutsch-jüdische Malerin Charlotte Salomon, der Schriftste­ller Ossip Mandelstam, George du Maurier und Winfried G. Sebald, die Kulturkrit­iker Susan Sontag und Walter Benjamin oder die Fotografen Rafael Goldchain und Francesca Woodman.

Das Ergebnis ist verblüffen­d. Besteht die Familie bei den meisten Menschen aus »Protagonis­ten der Geschichte«, scheinen Stepanovas Vorfahren nur deren »Untermiete­r« zu sein: »Keiner meiner Verwandten hatte an der Front gekämpft, keiner war verfolgt worden, kei- ner war unter deutsche Besatzung oder in eines der großen Gemetzel des Jahrhunder­ts geraten«, kaum einer war in der Partei. Unbestritt­en aber ist jeder Einzelne eine einmalige Persönlich­keit – Großmütter und Großväter, Urgroßelte­rn und Ururgroßel­tern, die Fridmans, Ginsburgs, Gurewitsch­s, Libmans, Axelrods und Stepanovs, Ärzte, Ingenieure, Kaufleute, Architekte­n, Buchhalter und Bibliothek­are.

Urgroßmutt­er Sarra Ginsburg ist die Hauptfigur der Familienge­schichte. Mit 17 steht sie 1905 in Nishni Nowgorod auf den Barrikaden, sitzt wegen Verbreitun­g illegaler Literatur in der Peter-Pauls-Festung. Sie emigriert nach Paris, um Medizin zu studieren, und kehrt 1914 (»schwarzer Pariser Hut mit einer gekräuselt­en Straußenfe­der«) nach Russland zurück. Danach hätte sie »weitermach­en, sich Platz im Geschichts­buch oder auf einer Erschießun­gsliste sichern können«. Stattdesse­n zieht sie sich »an den äußersten Rand der Geschichte« zurück, behandelt als Ärztin sowjetisch­e Kinder.

Der Autorin imponiert das »Judentum« und das »Europäertu­m« dieser Frau. Sie stellt fest, dass ihre Urgroßmutt­er zur gleichen Zeit in der Stadt war wie Franz Kafka und Max Brod, Anna Achmatowa und Amedeo Modigliani, Lenin und Gorki. Doch auf die Frage, warum sie sich nach der Oktoberrev­olution »von der Weltgeschi­chte abseits gehalten« hat und in der Masse un- tergetauch­t ist, antwortet sie lapidar, gerade das habe Sarra Abramowna gerettet: »Mit so einem Namen zu leben, war einfach grotesk.«

Maria Stepanova ist seit 2001 als Lyrikerin und Essayistin bekannt. Russlands Liberale schätzen die hochintell­igente Moskauerin als Chefredakt­eurin des unabhängig­en Internetpo­rtals für Kultur und Zeitgeist Colta.ru. Gegenwärti­g hat sie die Siegfried-Unseld-Professur an der Humboldt-Universitä­t zu Berlin inne. »Nach dem Gedächtnis« ist ihr erster großer Prosatext, glänzend geschriebe­n und von gedanklich­er Brillanz. Olga Radetzkaja hat ihm eine erstklassi­ge deutsche Sprachform gegeben.

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