Narrenspiel aus dem Nichts
Vom Anarchisten zum katholischen Exzentriker: Der frühe Hugo Ball
Eine »grenzenlose Liebe zum Anderssein« trage er in sich, notierte Hugo Ball in seinem 1927 publizierten Erinnerungsbuch »Die Flucht aus der Zeit«. Die darin beschriebenen Fluchtbewegungen umfassen die Jahre 1910 bis 1921, jene Jahre also, in denen der 1886 in Pirmasens geborene Autor nicht nur sein Studium abbrach, in den Münchner Kammerspielen und in Berlin als Dramaturg arbeitete, die Front des Ersten Weltkriegs – wenn auch nicht als Soldat – kennenlernte, nach Zürich emigrierte und dort Dada und das Cabaret Voltaire mit gründete, sondern auch eine Wandlung vom Anarchisten und künstlerischen Provokateur zum katholischen Exzentriker vollzog.
Wem bislang nur die vielfach zitierten Passagen zur Gründung des Cabaret Voltaire bekannt waren, der »Bankrott der Ideen« und der Versuch, die »Literatur in Grund und Boden« zu trommeln, der wird sich wundern über den Duktus des gesamten Tagebuchs, das nun im Rahmen der Werkausgabe des Wallstein-Verlags erstmals in einer sorgfältig edierten und kommentierten Fassung vorliegt.
»Die Flucht aus der Zeit« habe »eher literarischen Charakter, als authentisches Abbild seiner Zeit zu sein«, betont Herausgeber Bernd Wacker in seinem umfangreichen Nachwort. »Die Überwindung des Chaos und der Immoral in allen höheren Formen wird schließlich der Sinn dieses Buches sein«, bekannte Ball in einem Brief.
»Der Sozialist, der Ästhet, der Mönch: alle drei sind sich darüber einig, dass die moderne bürgerliche Bildung dem Untergang zu überantworten sei«, notierte Hugo Ball für das Jahr 1921, »das neue Ideal wird von allen dreien seine Elemente übernehmen.« Seine eigene Person betrachtete er als Verkörperung dieses Ideals, mit dem er sich auch in seinem 1923 publizierten Buch »Byzantini- sches Christentum. Drei Heiligenleben« beschäftigt hatte. »Die Flucht aus der Zeit« sei ein »stark bearbeitetes Tagebuch«, erklärte auch seine Lebensgefährtin Emmy Hennings nach Balls frühem Tod aufgrund von Magenkrebs 1927. Bearbeitet ist es vor allem in der Absicht, »den eigentlichen Vorgang seiner Konversion sichtbar« zu machen, wie die Herausgeber im Nachwort erklären.
Die Lektüre des Buches ist daher auch eine recht zähe Angelegenheit, da Ball sehr viel Mühe darauf verwendet, seine Hinwendung zum Katholizismus als eine logische Konsequenz seiner vorherigen Interessen zu erklären. Er setzt die Religion als Voraussetzung, sich mit Kunst auseinanderzusetzen: »Um den Kubismus zu verstehen, muss man vielleicht die Kirchenväter lesen.« Das größte Problem des Westens sei dessen Weigerung, sich auf seine religiösen Werte zu besinnen: »Können wir umkehren und wieder Christen werden?«
Gleichzeitig zeigt »Die Flucht aus der Zeit« auch einen Menschen, der stur seinen Weg ging, ohne sich darum zu scheren, wie widersprüchlich seine biografischen Kurskorrekturen rückblickend wirken. 1920 schreibt er: »Meinen recht unbändigen, an den letzten Beispielen geschärften Eigenwillen hat kaum jemand überboten. Er ging politisch bis zur Anarchie und künstlerisch zum Dadaismus, der eigentlich meine Gründung, oder besser gesagt, mein Gelächter war.« Und die Aufzeichnungen aus dieser kurzen Phase des Dadaismus zeugen noch immer von einer enormen Kraft.
Nur wenige Monate des Jahres 1916 war Ball in das »Nar- renspiel aus dem Nichts« involviert, wie er Dada in seinem Tagebuch umschrieb, das mit klaren ästhetischen und politischen Vorstellungen verbunden war: »Da der Bankrott der Ideen das Menschenbild bis in die innersten Schichten zerblättert hat, treten in pathologischer Weise die Triebe und Hintergründe hervor«, notierte er, »da keinerlei Kunst, Politik oder Bekenntnis diesem Dammbruch gewachsen scheinen, bleibt nur die Blague und die blutige Pose.«
Die Kunst ist für ihn eine »Gelegenheit zur Zeitkritik und zum wahrhaften Zeitempfinden«, denn der Erste Weltkrieg, der »Bankrott der Ideen«, erfordere andere Formen, in denen das Zeitempfinden einen Resonanzraum finde. »Unser Kabarett ist eine Geste. Jedes Wort, das hier gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das eine, dass es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen« – klare Worte, die ihm nach Ende des Krieges auch die Einreise nach Deutschland erschwerten. »Täglich kamen Briefe ins Haus«, erinnerte sich Emmy Hennings an die Nachkriegszeit, »Briefe, in denen man ihm mitteilte, man würde ihn sofort töten, sobald er sich in Deutschland blicken lassen würde.«
Bereits im Herbst 1916 setzte er sich gemeinsam mit Emmy Hennings aus Zürich ab: »Wenn die Dinge erschöpft sind, kann ich nicht länger dabei verweilen.« Die Lautgedichte, die Ball im Cabaret vortrug, deutete er im Nachhinein als einen religiösen Akt der Reinigung der Sprache; liest man jedoch seine Kommentare zum Kriegsgeschehen und die ästhetischen Reaktionen auf die Verkommenheit der Welt, die Dada produzierte, so verlieren die nachträglichen Umdeutungen an Gewicht. Die Wucht, mit der er seinen Ekel vortrug, ist noch immer ganz materiell spürbar.