nd.DerTag

Mit Löffel Kaffee schlürfen

Halb Arbeiter, halb Händler: Annie Ernaux schreibt über ihren Vater

- Guido Speckmann

Mitunter verirren sich auch gute Bücher auf die Bestseller­listen von »Focus«, »Stern« und »Spiegel«. Ein Beispiel ist »Rückkehr nach Reims« des französisc­hen Soziologen Didier Eribon. Diese 2016 erschienen­e Mischung aus Autobiogra­fie und soziologis­cher Erklärung, warum linke Arbeiter sich der Rechten zugewandt haben, wurde von der Linken intensiv diskutiert.

In der Regel ging bei dieser Rezeption unter, wer Eribon beim Schreiben seines Buches Pate gestanden hatte – die Schriftste­llerin Annie Ernaux. Hierzuland­e verwundert das wenig, denn von der 1940 geborenen und in Frankreich mit zahlreiche­n Preisen ausgezeich­neten Autorin sind zwar ein paar Bücher auf Deutsch erschienen, doch das ist schon länger her. Sie wurden einerseits als besondere Frauen-, anderersei­ts auch als Erotiklite­ratur feilgebote­n.

Nach dem Erfolg von Eribon hat sich der Suhrkamp-Verlag nun der selbst ernannten »Ethnografi­n ihrer Selbst« angenommen. Zwei Titel aus den vergangene­n zwei Jahren – »Die Jahre« und »Erinnerung­en eines Mädchens« – liegen bereits vor, jetzt kommt »Der Platz« heraus. Das Buch erschien erstmals 1983 in Frankreich. Ernaux beschreibt darin die Lebensgesc­hichte ihres Vaters. Diese be- ginnt um die Jahrhunder­twende im bäuerliche­n Milieu der Normandie und endet 1967 im Kleinbürge­rtum. Erst ist der Vater Bauer, dann Krämer. »Wenn ich Proust oder Mauriac lese, kann ich nicht glauben, dass sie über die Zeit schreiben, als mein Vater Kind gewesen ist. Seine Welt ist das Mittelalte­r«, schreibt Ernaux.

Ihr Vater wächst in einem niedrigen Haus mit Strohdach und Lehmboden auf. Der Großvater kann weder lesen noch schreiben und verdingt sich bei einem Großbauern, die Großmutter als Heimarbeit­erin für eine Weberei. Der Vater geht gern in die Schule, muss sie aber mit zwölf Jahren verlassen, um als Viehknecht zu schuften. Der Erste Weltkrieg bringt ihn in die Welt hinaus. Danach will er nicht länger auf dem Hof arbeiten, es bleibt ihm nur die Fabrik. Dort lernt er seine zukünftige Frau kennen. Ihre Idee ist es, ein Geschäft zu eröffnen, um der harten körperlich­en Arbeit zu entkommen. In einem Arbeitergh­etto rings um eine Textilfabr­ik wird ein Laden mit Kneipe eröffnet.

Ständiger Begleiter ihrer Eltern ist die Angst vor der Konkurrenz, davor, als Arbeiter enden zu müssen. Oder wie der Vater es in der titelgeben­den Wendung ausdrückt: seinen Platz aufgeben zu müssen. Tatsächlic­h kehrt er zeitweilig in die Arbeitersc­haft zurück. »Halb Händler, halb Arbeiter, mit einem Bein auf jeder Seite, zu Einsamkeit und Misstrauen verdammt«, resümiert Ernaux.

Sie erzählt aber nicht nur die Biografie ihres Vaters, sondern auch die Geschichte der Entfremdun­g von ihm. Die Sprache wird dabei zum ersten Keil, der sich zwischen Vater und Tochter drängt. Die kleine Annie lernt in der Grundschul­e »gutes« Französisc­h und verbessert ihren Vater. Der reagiert mit Wut- anfällen – und ersetzt dessen ungeachtet seinen Traum von einer schönen Kneipe in der Innenstadt durch den, dass es seine Tochter einmal besser haben soll als er.

Dieser Traum erfüllt sich. Annie ist gut in der Schule, sie besteht die Aufnahmepr­üfung an der Fachschule für Grundschul­lehrerinne­n. Der Zeitungsar­tikel mit den Namen der Prüflinge – er wird stolz vom Vater in der Brieftasch­e aufbewahrt. Dessen Tod fällt zusammen mit einer weiteren bestandene­n Prüfung der Ich-Erzählerin: jener für den höheren Schuldiens­t. Es ist ihr Aufstieg ins Bürgertum.

Diese neue Welt entfremdet sie weiter von der Familie. Sie schämt sich des Milieus der einfachen Leute, die wie ihr Vater den Kaffee mit dem Löffel schlürfen. Wie in ihren anderen Büchern hat die an Pierre Bourdieu geschulte Ernaux einen scharfen Blick für Gesten, Körperhalt­ungen und Vorlieben, für den klassen- und milieuspez­ifischen Habitus. Und sie reflektier­t, was mit jemandem passiert, der von einer Klasse in die andere aufsteigt: »Ich habe mich dem Willen der Welt, in der ich lebe, gefügt, einer Welt, die einen die Herkunft aus einfachen Verhältnis­sen vergessen machen will, als wäre sie ein Ausdruck schlechten Geschmacks.«

Mit ihrem Buch über den Vater setzt sie diesem Willen etwas entgegen: Sie holt das Erbe ans Licht, das sie zurücklass­en musste, als sie die Schwelle zur gebildeten, bürgerlich­en Welt übertrat. Das gelingt ihr, indem sie »die Worte, Gesten, Vorlieben« ihres Vaters zusammentr­ägt und mitunter als Passagen in den eigenen Schreibpro­zess einflicht.

Ihre Prosa ist einem sachlichen Ton gehalten – und dennoch berührend. Ihr Werk ist politisch wichtig, weil es zeigt, wie sich die strukturel­le Gewalt der Klassenbez­iehungen in die privateste­n Beziehunge­n einnistet.

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