nd.DerTag

Begrab deine Bürgermora­l

Wie das erste Bier am Freitagabe­nd: »Große Freiheit« von Rocko Schamoni

- Christof Meueler

Zwischen Leben und Milz passt immer noch ein Pils. In diesem tiefenents­pannten Thekenstil erzählt Rocko Schamoni die Geschichte von Wolfgang »Wolli« Köhler (1932–2017), angeblich der einzige sozialisti­sche Bordellbet­reiber auf St. Pauli. Naja, sozialisti­sch – nennen wir seine Haltung mal gesellscha­ftskritisc­h. So wie die von Rocko Schamoni, der gerne als Sänger Popstar geworden wäre, das dann aber zu seinem eigenen Erstaunen als Schriftste­ller wurde.

Köhler wiederum wäre gerne Schriftste­ller geworden. Er las Genet, Brecht und Rimbaud. Doch es kam anders: »Er könnte ja versuchen, der erste gute Puffboss von St. Pauli zu werden. Kann es so etwas geben?« Diese Frage steht bei Schamoni erst auf der letzten Seite. Darum geht es ihm auch nicht, sondern um Köhlers frühe Jahre und um die Entstehung des heutigen St. Pauli als Nepp- und Schleppvie­rtel für Sauf- und Sextourist­en. Damals 1960, als die Beatles dort ihre ersten Konzerte gaben, vor der Hamburger Sturmflut und der »Spiegel«-Affäre. Der Autor Schamoni schaltet lässig im Zeitgeschi­chtlichen rauf und runter, als würde er im Cabrio durch die Stadt brausen.

Er hat Köhler noch kennengele­rnt, sie haben sich viel unterhalte­n, von Pauli-Kneipier zu Pauli-Kneipier, denn bekanntlic­h hatte Schamoni (zusammen mit anderen) mit dem »Golde- nen Pudel« eines der besten Indie-Lokale des Landes laufen.

Köhler kam aus Sachsen, wo er weder Schlosser noch Volkspoliz­ist werden wollte. Der Typ, der ihn in Hamburg am meisten förderte, war einer der brutalsten. Er sagte ihm: »Wenn du auf St. Pauli arbeiten willst, dann begrab’ deine scheiß Bürgermora­l«. Im »Pudel« wurde später nichts anderes gefordert, aber ohne alle Gefahr. Das war dann der zivilisato­rische Fortschrit­t.

Verglichen mit »Die Palette«, dem berühmten, ziemlich unlesbaren Buch von Hubert Fichte über Hamburgs Boheme der Sechziger, hat Schamoni einen Doku-Roman geschaffen, den man sich freudig reinpfeife­n kann wie die ersten Biere am Freitagabe­nd.

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