Begrab deine Bürgermoral
Wie das erste Bier am Freitagabend: »Große Freiheit« von Rocko Schamoni
Zwischen Leben und Milz passt immer noch ein Pils. In diesem tiefenentspannten Thekenstil erzählt Rocko Schamoni die Geschichte von Wolfgang »Wolli« Köhler (1932–2017), angeblich der einzige sozialistische Bordellbetreiber auf St. Pauli. Naja, sozialistisch – nennen wir seine Haltung mal gesellschaftskritisch. So wie die von Rocko Schamoni, der gerne als Sänger Popstar geworden wäre, das dann aber zu seinem eigenen Erstaunen als Schriftsteller wurde.
Köhler wiederum wäre gerne Schriftsteller geworden. Er las Genet, Brecht und Rimbaud. Doch es kam anders: »Er könnte ja versuchen, der erste gute Puffboss von St. Pauli zu werden. Kann es so etwas geben?« Diese Frage steht bei Schamoni erst auf der letzten Seite. Darum geht es ihm auch nicht, sondern um Köhlers frühe Jahre und um die Entstehung des heutigen St. Pauli als Nepp- und Schleppviertel für Sauf- und Sextouristen. Damals 1960, als die Beatles dort ihre ersten Konzerte gaben, vor der Hamburger Sturmflut und der »Spiegel«-Affäre. Der Autor Schamoni schaltet lässig im Zeitgeschichtlichen rauf und runter, als würde er im Cabrio durch die Stadt brausen.
Er hat Köhler noch kennengelernt, sie haben sich viel unterhalten, von Pauli-Kneipier zu Pauli-Kneipier, denn bekanntlich hatte Schamoni (zusammen mit anderen) mit dem »Golde- nen Pudel« eines der besten Indie-Lokale des Landes laufen.
Köhler kam aus Sachsen, wo er weder Schlosser noch Volkspolizist werden wollte. Der Typ, der ihn in Hamburg am meisten förderte, war einer der brutalsten. Er sagte ihm: »Wenn du auf St. Pauli arbeiten willst, dann begrab’ deine scheiß Bürgermoral«. Im »Pudel« wurde später nichts anderes gefordert, aber ohne alle Gefahr. Das war dann der zivilisatorische Fortschritt.
Verglichen mit »Die Palette«, dem berühmten, ziemlich unlesbaren Buch von Hubert Fichte über Hamburgs Boheme der Sechziger, hat Schamoni einen Doku-Roman geschaffen, den man sich freudig reinpfeifen kann wie die ersten Biere am Freitagabend.