Point of no return
Wolfram Adolphi hat eine Familiensaga verfasst
»Aber es war nicht eitel Glück in Jakob, sondern ein Flimmern. Ein Flimmern zwischen Freude und Furcht. Er spürte, dass etwas in Gang gesetzt war, das nicht nur ihn, Jakob, nicht mehr loslassen würde, sondern andere auch.« Eigentlich müsste Jakob stolz sein. Ist er auch. Denn eine Straße ist nach seinem Großvater Hermann Hartenstein benannt worden, wenn auch eine nur 100 Meter messende zum Haupthaus der Hochschule, an der Medien, Design und Kulturwissenschaften gelehrt werden. Ein Expertenteam hatte dem Rektorat empfohlen, die bis dahin lediglich mit A, B, C und D bezeichneten Wege umzutaufen, zwecks Steigerung der Corporate Identity und für die Außenwerbung. Es war im Lehrkörper und in der Studentenschaft heftig diskutiert worden, bis man sich auf die Namen geeinigt hatte, darunter Hermann Hartenstein, seit der Gründung der SED 1946 deren Mitglied und Begründer des Foschungs- und Studienfachs Chemische Verfahrenstechnik an der Hochschule, als diese noch auf technische Disziplinen ausgerichtet war. Und der diese zu nationaler und internationaler Anerkennung geführt hatte. So weit, so gut?
In der Familie wusste man es: Hermann Hartenstein war Ingenieur bei der I. G. Farben. Jenem Konzern, der in Auschwitz III/ Monowitz de facto ein privatwirtschaftliches Konzentrationslager unterhielt, Zwangarbeiter ausbeutete und das Giftgas zur Ermordung Hunderttausender Menschen lieferte. Und daher nach dem Krieg von den Alliierten als ein kriegsverbrecherisches Unternehmen verurteilt und zerschlagen wurde. So kam, was kommen musste.
Eines Tages enthüllte die Zeitung den »Skandal«: Die Kreisstadt benennt eine Straße nach einem Mann, der in Auschwitz mitgemacht hat bei der Vernichtung jüdischen Lebens. »Ein Satz wie ein Fausthieb. Schmerzhaft und treffsicher. Weil – Jakob wusste es doch – wahr.« Redakteur Lobesam hatte zwar das Wort »wahrscheinlich« in seinen Artikel eingebaut, Indizien lägen vor. Aber das machte die Sache nicht besser. Im Gegenteil.
Hilf- und erfolglos geblieben war der Versuch von John, dem älteren Bruder, Physiker von Beruf, Jakobs Unruhe zu zerstreuen: »Wir haben den Vorschlag mit der Straße nicht gemacht, und wir sind auch nicht gefragt worden.« Ein point of no return war erreicht, liest man über Jakobs Befindlichkeit. Er sucht Zeitzeugen auf, befragt Arbeitskollegen des Großvaters und antifaschistische Veteranen, studiert Dokumente, hinterfragt alles, was er bis dato – bis zu seinem 60. Geburtstag – zu wissen glaubte und was nun zerstob. War der Großvater ein Täter? Was hat er verschwiegen? Warum ist er nicht in den Westen gegangen, hat sich für die DDR entschieden? Und warum hatte er immer wieder beteuert, er wolle nicht, dass »diese Zeiten wiederkommen«, die faschistischen. Das alles fragt sich Jakob, der mit Büchern über den antifaschistischen Widerstand aufgewachsen ist und die Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald besucht hat und dessen Bürge zur Aufnahme in die SED einer der Helden war, die im ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden hohes Ansehen genossen.
Wolfram Adolphi hat den zweiten Band seiner Familiensaga vorgelegt. Führte der erste bis ins 19. Jahrhundert zurück, ins ferne Lettland und in die nahe Slowakei, sodann über die mörderischen Jahre des Ersten Weltkrieges und die Weltwirtschaftskrise hinein in die noch mörderischeren Jahre des Zweiten Weltkrieges, nach dem ein gründlicher Neubeginn und mühselige Aufräumarbeiten, materielle wie mentale, nötig waren, ist der zweite Band auf Vergangenheitsbewältigung fokussiert. Auf Verstehen, Suchen, Begreifen, Erkennen.
Ort der Handlung im Buch des 1951 in Leuna geborenen Autors, Japan-Kenners und ChinaExperten, einstigen Abgeordneten und Berliner PDS-Chefs, ist Leupa. Da auch andere, sich mit der Biografie Adolphis überschneidende Erfahrungen und Erlebnisse verarbeitet sind, kann man wohl davon ausgehen, dass hier eine persönliche Spurensuche aufgenommen wurde. Zugleich ist dies eine Geschichte des ostdeutschen Staates, die dem vereinten, jedoch uneinigen Deutschland heute den Spiegel vorhält. Es werden skandalisierte wie reale, beängstigende Probleme angesprochen.