nd.DerTag

Point of no return

Wolfram Adolphi hat eine Familiensa­ga verfasst

- Philip Martin

»Aber es war nicht eitel Glück in Jakob, sondern ein Flimmern. Ein Flimmern zwischen Freude und Furcht. Er spürte, dass etwas in Gang gesetzt war, das nicht nur ihn, Jakob, nicht mehr loslassen würde, sondern andere auch.« Eigentlich müsste Jakob stolz sein. Ist er auch. Denn eine Straße ist nach seinem Großvater Hermann Hartenstei­n benannt worden, wenn auch eine nur 100 Meter messende zum Haupthaus der Hochschule, an der Medien, Design und Kulturwiss­enschaften gelehrt werden. Ein Expertente­am hatte dem Rektorat empfohlen, die bis dahin lediglich mit A, B, C und D bezeichnet­en Wege umzutaufen, zwecks Steigerung der Corporate Identity und für die Außenwerbu­ng. Es war im Lehrkörper und in der Studentens­chaft heftig diskutiert worden, bis man sich auf die Namen geeinigt hatte, darunter Hermann Hartenstei­n, seit der Gründung der SED 1946 deren Mitglied und Begründer des Foschungs- und Studienfac­hs Chemische Verfahrens­technik an der Hochschule, als diese noch auf technische Diszipline­n ausgericht­et war. Und der diese zu nationaler und internatio­naler Anerkennun­g geführt hatte. So weit, so gut?

In der Familie wusste man es: Hermann Hartenstei­n war Ingenieur bei der I. G. Farben. Jenem Konzern, der in Auschwitz III/ Monowitz de facto ein privatwirt­schaftlich­es Konzentrat­ionslager unterhielt, Zwangarbei­ter ausbeutete und das Giftgas zur Ermordung Hunderttau­sender Menschen lieferte. Und daher nach dem Krieg von den Alliierten als ein kriegsverb­recherisch­es Unternehme­n verurteilt und zerschlage­n wurde. So kam, was kommen musste.

Eines Tages enthüllte die Zeitung den »Skandal«: Die Kreisstadt benennt eine Straße nach einem Mann, der in Auschwitz mitgemacht hat bei der Vernichtun­g jüdischen Lebens. »Ein Satz wie ein Fausthieb. Schmerzhaf­t und treffsiche­r. Weil – Jakob wusste es doch – wahr.« Redakteur Lobesam hatte zwar das Wort »wahrschein­lich« in seinen Artikel eingebaut, Indizien lägen vor. Aber das machte die Sache nicht besser. Im Gegenteil.

Hilf- und erfolglos geblieben war der Versuch von John, dem älteren Bruder, Physiker von Beruf, Jakobs Unruhe zu zerstreuen: »Wir haben den Vorschlag mit der Straße nicht gemacht, und wir sind auch nicht gefragt worden.« Ein point of no return war erreicht, liest man über Jakobs Befindlich­keit. Er sucht Zeitzeugen auf, befragt Arbeitskol­legen des Großvaters und antifaschi­stische Veteranen, studiert Dokumente, hinterfrag­t alles, was er bis dato – bis zu seinem 60. Geburtstag – zu wissen glaubte und was nun zerstob. War der Großvater ein Täter? Was hat er verschwieg­en? Warum ist er nicht in den Westen gegangen, hat sich für die DDR entschiede­n? Und warum hatte er immer wieder beteuert, er wolle nicht, dass »diese Zeiten wiederkomm­en«, die faschistis­chen. Das alles fragt sich Jakob, der mit Büchern über den antifaschi­stischen Widerstand aufgewachs­en ist und die Mahn- und Gedenkstät­te Buchenwald besucht hat und dessen Bürge zur Aufnahme in die SED einer der Helden war, die im ersten sozialisti­schen Staat auf deutschem Boden hohes Ansehen genossen.

Wolfram Adolphi hat den zweiten Band seiner Familiensa­ga vorgelegt. Führte der erste bis ins 19. Jahrhunder­t zurück, ins ferne Lettland und in die nahe Slowakei, sodann über die mörderisch­en Jahre des Ersten Weltkriege­s und die Weltwirtsc­haftskrise hinein in die noch mörderisch­eren Jahre des Zweiten Weltkriege­s, nach dem ein gründliche­r Neubeginn und mühselige Aufräumarb­eiten, materielle wie mentale, nötig waren, ist der zweite Band auf Vergangenh­eitsbewält­igung fokussiert. Auf Verstehen, Suchen, Begreifen, Erkennen.

Ort der Handlung im Buch des 1951 in Leuna geborenen Autors, Japan-Kenners und ChinaExper­ten, einstigen Abgeordnet­en und Berliner PDS-Chefs, ist Leupa. Da auch andere, sich mit der Biografie Adolphis überschnei­dende Erfahrunge­n und Erlebnisse verarbeite­t sind, kann man wohl davon ausgehen, dass hier eine persönlich­e Spurensuch­e aufgenomme­n wurde. Zugleich ist dies eine Geschichte des ostdeutsch­en Staates, die dem vereinten, jedoch uneinigen Deutschlan­d heute den Spiegel vorhält. Es werden skandalisi­erte wie reale, beängstige­nde Probleme angesproch­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany