»Ich meine die Weltzustände«
Annette Müller-Spreitz erläutert, was uns Wolfgang Mattheuers Bildtitel sagen
Die meisten Aktiven der bildenden Kunst halten nicht viel von Bildtiteln. Ihr Element ist die künstlerisch-intensive Gestaltung der Bildfläche. Das Politische sehen sie maßlos überschätzt. Die Mehrheit der Malenden malt aus dem Bauch heraus. Das Gemalte nur widerwillig mit Bildtiteln versehend, werden damit in erster Linie Preislisten für Verkauf oder Versicherung bedient, um am Ende ein solides Werkverzeichnis vorzuweisen.
Malkunst ist Literarischem wenig gewogen. Bilder moralisierender Denker wie Wolfgang Mattheuer waren im Kollegenkreis umstrittener als in der offiziellen Bewertung. Doch selten hat so nachdenklich grüblerische Kunst wie diese eine solche Popularität erreicht. Mattheuers Bildtitel verraten Feinsinn. Sind sie ernst zu nehmen? Ja, aber mit Ironie. Zeit, um mal nachzuforschen. Gut, dass dies die 1980 in Zwickau geborene Annette Müller-Spreitz getan hat. Sie legt eine äußerst solide Forschungsleistung vor, in den sie den intensiven Arbeitsprozess des Malers akribisch nachvollzieht. Die 45 Farbabbildungen, ins Kleinformat gepresst, sind allerdings kaum mehr als nüchterne BildInfos. Der Universitätsverlag Leipzig ediert halt Wissenschaft pur. Was da in sehr eigener Bildkomposition geleistet ist, wird eher nicht so recht erkennbar.
Die Geschichte der Textschildchen in Ausstellungen begann erst vor rund 100 Jahren, erfahren wir. Waren Bildtitel selbst gewählt oder fremdbestimmt? Das war gerade zu DDRZeiten die Frage. Und Mattheuer machte einen eigenen Kult daraus. Die Autorin hat 624 Bildtitel unter die Lupe genommen. Alle erreichbaren geo- und biografischen Details hat sie einbezogen. Was da alles an Farbattributen oder Eigennamen bis zu statistischen Diagrammen vorkommt, markiert eine quantitative Dimension. Sechs laufende Regalmeter persönlicher Aufzeichnungen waren neben politisch-offiziellem Protokolltext-Müll zu sichten, der nie so ernst genommen wurde wie heute. Denn: Es gab in der DDR einen gigantischen Anspruch auf Kunst. Und die entsteht nie nach Aktenlage. Das war die Chance. »Ich verstehe mich so, dass ich vorrangig meine Gegenwart reflektiere, die aber nicht nur die Gegenwart des Landes oder der Gesellschaftsform ist, in der ich lebe«, bekannte Mattheuer. Und ergänzte, er kritisiere »nicht nur die gerade herrschende Macht, sondern ich meine die Weltzustände«.
Im allseits kollektivierenden System wird seine in Bildern und Bildtiteln ablesbare extrem individuelle Weltsicht zelebriert. Der bekennende Vogtländer schreitet in die Weltdimension. »Nachbar, es brennt doch wirklich« titelt er. »Ein Idyll wird abgebaut« oder »Mensch! Ich seh die ganze Welt«; »Der übermütige Sisyphos und die Seinen« oder »Und die Flügel ziehen himmelwärts«. Und »Kein Ende, irgendwann?« – das sind die Satzzugaben zu philosophisch grundierten Bildfindungen. Die Sicht aus Antike und Bibel all inclusive.
Es ist erfrischend, so detailliert den Beweis geliefert zu bekommen, welche bildnerischen Meisterleistungen aus ganz prosaischen Anlässen entstanden. Zwei kurze Bildtitel zeigen es: »Adam wartet«, 1965: Horizontnah auf einsamer Fläche, vor- dergründig zwei Tennisschläger, ein Brot und zwei Milchflaschen. Widerständige Bitterkeit? Nein. Des Malers persönliche Hoffnung auf »Niederkunft« der Freundin mit dem ersehnten Kind. »Die Ausgezeichnete«, 1973: In ironisch-mitleidiger Erstfassung die aus Israel remigrierte Jüdin Lea Grundig nach allgewaltiger Verbandspräsidentschaft mit ein paar Tulpen abgefertigt. In naiv empfundener Zweitfassung die eigene Mutter fast identisch dazu, von allen so alleingelassen, dass Millionen Ausstellungsbesucher davon angerührt werden konnten.
Das Beste am Buch: Man ahnt zwischen den Zeilen die seltene Menschenkennerschaft des Bildund Wortschöpfers Mattheuer. Sein autonom abstrahierender »Jahrhundertschritt« ist in Bezug auf den pathetischen »Schritt der Jahrhundertmitte« des Dichters Johannes R. Becher satirische Paraphrase pur. Mattheuers Lebenswerk geht weit über das Jahr 1990 hinaus. Da liegt die Frage auf der Hand, inwieweit der Meister unter veränderten Bedingungen seine Methodik bewahrt oder revidiert hat – wie manche andere. Wer immer nur nach »Autonomie und Anpassung« fragt, sollte das auch hier tun. Nur von der Kunst selbst sind authentische Antworten zu erwarten.