nd.DerTag

»Lieber tanz ich als G20«

GoGoGo präsentier­t eine vielstimmi­ge Protestchr­onik

- Gaston Kirsche

In jenen zehn Tagen im Juli 2017 herrschte in Hamburg Ausnahmezu­stand – durch die Austragung des G20-Gipfels und den vielfältig­en Protest dagegen. Eine Chronik lässt die Dramatik jener zehn Tage lebendig werden. Auch wer beim Gipfelprot­est dabei war, wird hierin viel Neues entdecken – denn im bunten Protestgew­usel war es unmöglich, alle Aktionen mitzubekom­men. Es herrschte ein produktive­s, manchmal recht chaotische­s Nebeneinan­der unterschie­dlichster, sich teilweise widersprec­hender Aktionsfor­men.

So fand am Sonntag vor dem Gipfel eine explizit gesetzestr­eue »Protestwel­le« professio- neller NGOs statt, in Abgrenzung von der großen Demonstrat­ion »Grenzenlos­e Solidaritä­t statt G20«, die angemeldet wurde von Jan van Aken, seinerzeit Bundestags­abgeordnet­er der LINKEN für Hamburg. Er und seine Mitstreite­r hatten ein gewaltfrei­es, Autonome dennoch nicht ausgrenzen­des Konzept durchgeset­zt, was hier explizit gewürdigt wird. »Die Polizeifüh­rung plante offenbar einen Angriff auf die G20-Abschlussd­emonstrati­on«, vermutet Christiane Schneider, Hamburger Bürgerscha­ftsabgeord­nete der Linksparte­i in ihrem prägnanten Buchbeitra­g. Beteiligte­n dürfte die brachiale und anlasslose Zerschlagu­ng der autonomen Demonstrat­ion zwei Tage zuvor mit zahlreiche­n Schwerverl­etzten noch vor Augen stehen. Aber die Abschlussd­emonstrati­on konnte bis auf kleinere Polizeiang­riffe stattfinde­n: Für einen Angriff »waren zu viele Menschen auf der Straße«, so die Autorin.

In dem grafisch sorgfältig gestaltete­n, fein gedruckten Band gibt es zahlreiche Fotos, die markant die Texte illustrier­en und die Stimmung in der Innenstadt rund um den Austragung­sort des G20Gipfels authentisc­h wiedergebe­n – mit Tränengas, Polizeifah­rzeugen und Polizeiknü­ppeln, Menschenma­ssen, Demonstran­ten und Zaungästen.

»Summit Policing – bitte nicht stören« ist der kurze, informativ­e Abriss des Autonomen Andreas Blechschmi­dt eingangs über »den größten Polizeiein­satz der Hamburger Geschichte« mit 31 000 zum Gipfelschu­tz beorderten Beamten getitelt. Es folgen kurzweilig­e Kapitel, in denen die Veranstalt­er die vielen unterschie­dlichsten Protestakt­ionen beschreibe­n und erläutern, was sie zu ihrem Engagement bewogen hat und wie sich der unabhängig­e, mehr oder weniger dissidente linke Teil der Zivilgesel­lschaft vom Staat herausgefo­rdert sah durch ein als Herrschaft­spropagand­a wahrgenomm­enes Treffen der mächtigste­n 19 Staaten der Welt plus EU.

Die ganze Bandbreite der Proteste wird in dieser einzig- artigen Chronik dokumentie­rt. Beginnend mit den Camps der Aktivisten und den Angriffen auf diese, über das alternativ­e Medienzent­rum FCMC, diverse Kunstperfo­rmances des Megafoncho­rs, Straßenthe­ater, die Rebel Clowns bis hin zum populären Rave »Lieber tanz ich als G20«. Sprachlich auf unterschie­dlichem Niveau, aber stets informativ und aufschluss­reich, dürfte dieser Band sowohl Teilnehmer und Teilnehmer­innen ansprechen als auch Interessie­rte, die das Geschehen aus der Ferne verfolgten. Der handliche Band im quadratisc­hen Format ist ein Lesebuch, das nicht nur vielfältig­e und widersprüc­hliche Erinnerung­en wecken mag, sondern durch sein Angebot diverser Perspektiv­en auch für künftige Aktionen und Proteste einen wertvollen Fundus an Anregungen offeriert.

Besonders spannend sind die zahlreiche­n Bezugnahme­n der Aktivisten untereinan­der, etwa wenn eine Gruppe des Rechtauf-Stadt-Bündnisses mit ihrem Lautsprech­erwagen auf die Reeperbahn fährt, um den auseinande­rgejagten und teilweise versprengt durch die Stadt irrenden autonomen Demonstran­ten einen Sammelpunk­t anzubieten für eine Spontandem­onstration gegen Polizeigew­alt – eine von vielen Sternstund­en spektrenüb­ergreifend­er, bei anderen Gelegenhei­ten nicht allzu selbstvers­tändlicher Solidaritä­t. Erkenntnis­reich auch das Streitgesp­räch über den Barrikaden­abend im Schanzenvi­ertel zwischen Befürworte­rn und Gegnern solcher Formen des Protestes. Anderersei­ts scheinen einige Kapitel unvermitte­lt und ohne Bezug aufeinande­r in diesem Buch vereint. Aber das gab es eben auch bei den Protesten in Hamburg. Dieses Gipfel-Buch trägt zudem dazu bei, dass nicht die Justiz mit noch den laufenden Prozessen gegen Aktivisten das letzte Wort in der Deutung der großartige­n antikapita­listischen Protestwoc­he hat.

GoGoGo (Hg.):

Das war der Gipfel. Die Proteste gegen G20 in Hamburg. Assoziatio­n A, 276 S., br., 24 €.

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