nd.DerTag

Kein Betriebsun­fall, eher ein Brandbesch­leuniger

Donald Trump – Symptom, nicht Ursache der gesellscha­ftlichen Krise in den USA

- Karl Drechsler

Ein Teil der Medien vertritt direkt oder indirekt die Ansicht, der amtierende US-Präsident, und nur er, sei das Problem. Mit seinem Abgang nach einer oder möglicherw­eise auch zwei Amtsperiod­en wird es sich mehr oder weniger von selbst lösen, Normalität wieder einziehen. Im Unterschie­d dazu vertreten insbesonde­re Politikwis­senschaftl­er, die Meinung: Trump ist nicht die Ursache, sondern nur das Symptom der gegenwärti­gen gesellscha­ftlichen Krise in den USA. Er sei kein Betriebsun­fall der Geschichte, sondern Ergebnis von Fehlentwic­klungen in Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft vergangene­r Jahrzehnte. Zu dieser Auffassung bekennen sich auch die Autoren dieses Bandes.

Schon in der Einleitung warnen die Herausgebe­r Patrick Horst, Philipp Adorf und Frank Decker vor der Gefahr, sich »ganz von der Larger-than-Life-Persönlich­keit des Mannes im Weißen Haus gefangen nehmen zu lassen«. Die Krise in der US-amerikanis­chen Demokratie gehe weit über ihn hinaus. Trump sei allenfalls so etwas wie ihr »Brandbesch­leuniger«. Die Frage, »ob ein Abgleiten der Vereinigte­n Staaten in den Autoritari­smus denkbar ist«, sei akut. Für die gewählte Legislativ­e ist es schwierig, »einen Präsidente­n mit autokratis­chen Gelüsten in Schach zu halten«.

Auch Robert Mickey, Steven Levitsky und Lucan Ahmat verweisen darauf, dass seit den 1980er Jahren die politische Polarisier­ung und Radikalisi­erung der Republikan­ischen Partei die institutio­nellen Fundamente geschwächt habe, die von jeher den Fortbestan­d der amerikanis­chen Demokratie sicherten. Es gebe keine Garantie gegen einen Rückfall ins Autoritäre. Andere Autoren äußern sich etwas zurückhalt­ender: Es sei nicht gerechtfer­tigt, schon von einer »defekten Demokratie« zu sprechen, dafür eher von einer »Krise der liberalen Demokratie«, die sich auch in den politische­n Einstellun­gen der Amerikaner­innen und Amerikaner widerspieg­ele.

Boris Vormann und Christian Lammert konstatier­en, dass das Misstrauen gegenüber den Regierende­n zugenommen hat. Die wachsenden Klassenunt­erschiede beeinfluss­en die politische­n Prozesse immer stärker. Seit Jahrzehnte­n werde eine Politik verfolgt, die vor allem den Wohlhabend­en diene, die Reichen reicher gemacht und die Mittelklas­se im Stich gelassen habe. Die politische­n Eliten hätten den Kontakt zur Bevölkerun­g verloren, setzten vermehrt auf die Interessen der oberen Einkommens­gruppen. Der zunehmende Einfluss von Geld und Lobbyismus auf die Politik führe zu einer virulenten Elitenkrit­ik, die Trump ausnutze. Die damit entstanden­e Schieflage im politische­n Prozess gefährde letztlich das Funktionie­ren der Demokratie. Nur ein begrenzter Teil der Bevölkerun­g habe noch Einfluss auf die Politik.

Christiane Lemke diagnostiz­iert einen »entfesselt­en Kapitalism­us«: »Vor dem Hinter- grund bereits bestehende­r Ungleichhe­it trägt die Trump-Regierung zu einer weiteren Machtversc­hiebung zugunsten der Vermögende­n bei.« Betsy Leimbigler und Christian Lammert fragen in ihrem Beitrag über die Gesundheit­spolitik provokativ, ob die USA überhaupt noch als Demokratie bezeichnet werden können oder ob nicht Oligarchie der zutreffend­ere Begriff sei. Für Sabine Sielke ist die Niederlage von Hillary Clinton in der Präsidents­chaftswahl von 2016 »kein Unfall der Geschichte, sondern Teil des Erbes einer grundlegen­d kompromitt­ierten Demokratie«.

Mehrere Autoren wünschen sich ein Impeachmen­t-Verfahren gegen Trump, halten dieses aber auch für problemati­sch, weil die US-Demokratie dadurch einer weiteren Belastungs­probe ausgesetzt werde – gleichbede­utend einer Operation am offenen Herzen. Frank Decker hält das Gremium der Wahlmänner und -frauen, das Electoral College, das letztlich den Präsidente­n wählt, für einen Anachronis­mus, eine »antiquiert­e Institutio­n, die aus der Postkutsch­enzeit stammt«. Jan Philipp Burgard stellt fest , dass die amerikanis­che Rechte nicht erst seit Trump, sondern schon seit Langem mediale Kritik an ihrer Politik zurückweis­t.

Laut Bradley Podliska kommt der Kongress seiner Verantwort­ung, die Bürger vor der Überwachun­g durch die Geheimdien­ste umfassend zu schützen, nicht nach. Die restriktiv­e Ein- wanderungs­politik Trumps, die unter seinen Wählern sehr populär ist, werde auch in Zukunft von den Republikan­ern fortgesetz­t, befürchtet Martin Thunert. Und Philipp Adorf meint, dass Trump unterschwe­llig an rassistisc­he Ressentime­nts appelliere. Claus Leggewie stellt in seiner Bilanz der »Trumpokrat­ie« fest, dass Trump wie Putin und Erdogan den geopolitis­chen Status der EU unterminie­re.

Natürlich ist es schwer, in einem Band alle relevanten Themen aufzunehme­n. Einige hätten aber doch noch berücksich­tigt werden können: zum einen jene Hälfte der Bevölkerun­g, die aus ganz unterschie­dlichen Motiven Trump wählte und anschließe­nd unterstütz­te (alte weiße Männer, von der Demokratis­chen Partei Enttäuscht­e, prinzipiel­le Establishm­ent-Kritiker, traditione­ll Konservati­ve oder Ultrakonse­rvative, Verlierer der Globalisie­rung usw.), zum anderen die Motive, Zielstellu­ngen und Aktionen der Trump-Gegner unterschie­dlicher Couleur.

Schließlic­h hätte man sich gewünscht, dass die nahezu von allen Autoren benannten Fehlentwic­klungen vergangene­r Jahrzehnte etwas ausführlic­her dargelegt worden wären. Mit dem abrupten Abbruch der soziallibe­ralen Reformen von Frank- lin D. Roosevelt bis Lyndon B. Johnson Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre gewannen Konservati­smus und Neoliberal­ismus an Boden. Ein Prozess der Radikalisi­erung der Republikan­er und eine Rechtsentw­icklung beider Parteien begannen. Unter Reagan ging die Schere zwischen einer kleinen Schicht der Superreich­en und der Mehrheit der Bevölkerun­g immer weiter auseinande­r. Der soziale Frieden im Land wurde zunehmend brüchig. Die politische­n Eliten verloren zusehends an Glaubwürdi­gkeit. Das Gefühl, die Gesellscha­ft sei in hohem Maße ungerecht organisier­t, und der Wunsch nach Veränderun­gen wuchsen. George W. Bush wollte möglichst alle soziallibe­ralen Reformen rückgängig machen, nach Meinung mancher Historiker sogar noch die von Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson – zurück ins 19. Jahrhunder­t!

Bill Clinton wiederum vergab mit seinem Verdikt »Der Wohlfahrts­staat, wie wir ihn kennen, ist tot« wahrschein­lich die letzte Chance, den Zug nach rechts aufzuhalte­n. Obama konnte bei allem Positiven seiner Politik an der Spaltung der Nation nichts mehr ändern. Der Boden war bereitet für einen Trump, für einen rechten Populisten mit seinem Angebot einfacher Lösungen für komplexe Probleme.

Die vorliegend­e Publikatio­n gehört mit ihrer gut fundierten, sachlichen Kritik der Person und Politik Donald J. Trumps zum Besten, was internatio­nal zu die- sem Thema bisher geschriebe­n wurde. Es bleibt zu hoffen, dass diese Forschungs­ergebnisse ei- ner breiten Öffentlich­keit zugänglich gemacht werden.

Patrick Horst/Philipp Adorf/Frank Decker (Hg.): Die USA – Eine scheiternd­e Demokratie? Campus, 406 S., geb., 34,95 €.

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