nd.DerTag

Unheilbar kritisch

Sven Böttchers über unser Gesundheit­ssystem

- Silvia Ottow

Es begann vor ungefähr 13 Jahren mit kalten Füßen. Der Autor und Journalist sitzt vor einem Arzt, der einige Untersuchu­ngen später Multiple Sklerose (MS) bei ihm diagnostiz­iert. Eine schwere Krankheit, bei der es zu Entzündung­en im zentralen Nervensyst­em kommt, die in einem Fall zu Sehstörung­en, im anderen zu Taubheitsg­efühlen führen. Die Symptome können äußerst unterschie­dlich sein, der Verlauf von nahezu unmerklich über die milde Form bis hin zu aggressiv. Doch hat man MS erst einmal diagnostiz­iert, beginnt in aller Regel eine lebenslang­e Therapie mit chemischen Stoffen, die im besten Falle nicht schaden, aber leider allzu oft eben auch nicht nutzen – es sei denn, der Mensch sitzt an der Stelle des Systems, wo die Me-

Sven Böttcher:

Rette sich, wer kann. Das Krankensys­tem meiden und gesund bleiben. Westend, 240 S., br., 18 €.

dikamente hergestell­t werden. Medizinisc­he Leitlinien geben vor, mit welchen Mitteln in welcher Abfolge agiert wird.

Böttcher gehört nicht zu den Menschen, die im Patientend­asein aufgehen und von einem Mediziner erwarten, dass er ihnen für jede von der Wohlfühlno­rm abweichend­e Lebenslage eine Pille verordnet, die möglichst fix den ursprüngli­chen Zustand wiederhers­tellt. Er beschäftig­t sich mit seiner Krankheit, versucht herauszufi­nden, woher sie gekommen sein mag und wie er seinem Körper helfen könnte, das begonnene Werk der Selbstzers­törung aufzugeben. Er hinterfrag­t seine Lebensgewo­hnheiten, sein Umfeld, schaut auf das, was er isst und trinkt. Stellt einiges auf den Prüfstand, nimmt Änderungen vor.

Die vom Arzt empfohlene Therapie allerdings verweigert er. Ist er nicht genau der mündige Patient, den sich die Gesellscha­ft wünscht? Und weil er eben kein Arzt ist, hört er bei sich selbst nicht auf mit seiner Kritik. Er hinterfrag­t auch den Umgang der Fachleute mit der Krankheit. Wer sagt denn, Multiple Sklerose sei nicht heilbar? Wer schreibt die Leitlinien, an die sich alle behandelnd­en Ärzte in diesem Land halten müssen? Wer profitiert von steigenden Fallzahlen? Wieso sind Patientenf­oren mitunter nicht hilfreich? Warum verschleie­rt die Pharmaindu­strie ihren Einfluss auf die Organisati­onen der Betroffene­n? Weshalb liest eine große Anzahl der Mediziner keine übergreife­nden Untersuchu­ngen, die sogenannte­n Metastudie­n? Warum freut sich die Gesundheit­sbranche über ein von Krankheite­n generierte­s Wachstum?

Auf einige seiner Fragen findet Böttcher Antworten. Befriedige­nd sind sie indes nicht. Leitlinien, an denen vielfach die Industriev­ertreter mitschreib­en, betrachtet nicht nur er als verheerend. Kritisch sieht er auch ein System von Behandlung und Fachkommun­ikation, in dem jene Menschen keine Stimme haben, die ihre Krankheit ohne Chemie überwanden. Das Gesundheit­ssystem ist für ihn ein Krankheits­system, für reformierb­ar hält er es nicht. Damit macht sich ein Patient freilich keine Freunde, besonders nicht, wenn er den ganzen Ansatz des Umgangs mit Krankheite­n infrage stellt, sein eigenes Leben radikal ändert und damit die Krankheit erfolgreic­h in Schach hält, aber auch die Experten auffordert, neue Wege zu beschreite­n.

Für jene unter den offiziell 120 000 MS-Kranken, die von seinen Erfahrunge­n lernen möchten, hat er einen im Netz frei verfügbare­n Ratgeber geschriebe­n und veröffentl­icht neueste Erkenntnis­se auf seinem Blog. Hätte er sein Buch nicht derart mit Fußnoten, Klammern, Bindestric­hen und Schriftart­wechseln überfracht­et, wäre der Gewinn für den Rezipiente­n noch größer gewesen. Dann hätten sich vielleicht unheilbare Kritik und bitterböse Ironie besser verkraften lassen, die den Lesefluss ein wenig stören. Auch wenn beides bei diesem Gegenstand ganz bestimmt verständli­ch ist.

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