Unheilbar kritisch
Sven Böttchers über unser Gesundheitssystem
Es begann vor ungefähr 13 Jahren mit kalten Füßen. Der Autor und Journalist sitzt vor einem Arzt, der einige Untersuchungen später Multiple Sklerose (MS) bei ihm diagnostiziert. Eine schwere Krankheit, bei der es zu Entzündungen im zentralen Nervensystem kommt, die in einem Fall zu Sehstörungen, im anderen zu Taubheitsgefühlen führen. Die Symptome können äußerst unterschiedlich sein, der Verlauf von nahezu unmerklich über die milde Form bis hin zu aggressiv. Doch hat man MS erst einmal diagnostiziert, beginnt in aller Regel eine lebenslange Therapie mit chemischen Stoffen, die im besten Falle nicht schaden, aber leider allzu oft eben auch nicht nutzen – es sei denn, der Mensch sitzt an der Stelle des Systems, wo die Me-
Sven Böttcher:
Rette sich, wer kann. Das Krankensystem meiden und gesund bleiben. Westend, 240 S., br., 18 €.
dikamente hergestellt werden. Medizinische Leitlinien geben vor, mit welchen Mitteln in welcher Abfolge agiert wird.
Böttcher gehört nicht zu den Menschen, die im Patientendasein aufgehen und von einem Mediziner erwarten, dass er ihnen für jede von der Wohlfühlnorm abweichende Lebenslage eine Pille verordnet, die möglichst fix den ursprünglichen Zustand wiederherstellt. Er beschäftigt sich mit seiner Krankheit, versucht herauszufinden, woher sie gekommen sein mag und wie er seinem Körper helfen könnte, das begonnene Werk der Selbstzerstörung aufzugeben. Er hinterfragt seine Lebensgewohnheiten, sein Umfeld, schaut auf das, was er isst und trinkt. Stellt einiges auf den Prüfstand, nimmt Änderungen vor.
Die vom Arzt empfohlene Therapie allerdings verweigert er. Ist er nicht genau der mündige Patient, den sich die Gesellschaft wünscht? Und weil er eben kein Arzt ist, hört er bei sich selbst nicht auf mit seiner Kritik. Er hinterfragt auch den Umgang der Fachleute mit der Krankheit. Wer sagt denn, Multiple Sklerose sei nicht heilbar? Wer schreibt die Leitlinien, an die sich alle behandelnden Ärzte in diesem Land halten müssen? Wer profitiert von steigenden Fallzahlen? Wieso sind Patientenforen mitunter nicht hilfreich? Warum verschleiert die Pharmaindustrie ihren Einfluss auf die Organisationen der Betroffenen? Weshalb liest eine große Anzahl der Mediziner keine übergreifenden Untersuchungen, die sogenannten Metastudien? Warum freut sich die Gesundheitsbranche über ein von Krankheiten generiertes Wachstum?
Auf einige seiner Fragen findet Böttcher Antworten. Befriedigend sind sie indes nicht. Leitlinien, an denen vielfach die Industrievertreter mitschreiben, betrachtet nicht nur er als verheerend. Kritisch sieht er auch ein System von Behandlung und Fachkommunikation, in dem jene Menschen keine Stimme haben, die ihre Krankheit ohne Chemie überwanden. Das Gesundheitssystem ist für ihn ein Krankheitssystem, für reformierbar hält er es nicht. Damit macht sich ein Patient freilich keine Freunde, besonders nicht, wenn er den ganzen Ansatz des Umgangs mit Krankheiten infrage stellt, sein eigenes Leben radikal ändert und damit die Krankheit erfolgreich in Schach hält, aber auch die Experten auffordert, neue Wege zu beschreiten.
Für jene unter den offiziell 120 000 MS-Kranken, die von seinen Erfahrungen lernen möchten, hat er einen im Netz frei verfügbaren Ratgeber geschrieben und veröffentlicht neueste Erkenntnisse auf seinem Blog. Hätte er sein Buch nicht derart mit Fußnoten, Klammern, Bindestrichen und Schriftartwechseln überfrachtet, wäre der Gewinn für den Rezipienten noch größer gewesen. Dann hätten sich vielleicht unheilbare Kritik und bitterböse Ironie besser verkraften lassen, die den Lesefluss ein wenig stören. Auch wenn beides bei diesem Gegenstand ganz bestimmt verständlich ist.