nd.DerTag

Die neue Lust

Didier Fassin über das Strafrecht

- Volkmar Schöneburg

»Die kleinen Diebe hängt man, die großen lässt man laufen: Auf diesem Gemeinplat­z steht seit alters jedes Gerichtsge­bäude.« Diese Sentenz Ernst Blochs könnte durchaus auch als ein Fazit aus dem Buch von Didier Fassin entnommen sein. Er konstatier­t für die letzten Jahrzehnte eine mehr oder weniger ausgeprägt­e Verschärfu­ng des Strafrecht­s in den westlichen Demokratie­n. Doch steht dieser Trend in keiner direkten Abhängigke­it zur Entwicklun­g der Kriminalit­ät, die in bestimmten Bereichen sogar rückläufig ist. Das veranlasst ihn, in seiner Arbeit den Fragen nachzuspür­en, was Strafen ist und warum wer bestraft wird. Dabei pflückt Fassin die Früchte seiner Erkenntnis­se nicht etwa auf dem Feld der Strafrecht­swissensch­aft, sondern auf denen der Anthropolo­gie, der Ethnologie, Soziologie und der Geschichts­wissenscha­ft. Das gereicht dem lesenswert­en Buch durchaus zum Vorteil.

Sehen Jurisprude­nz und Philosophi­e gemeinhin die Strafe als staatliche Zufügung eines Übels aufgrund einer Rechtsverl­etzung, bemessen nach Tatschwere und Schuld, kommt Fassin, der in Princeton lehrt und in der Tradition seiner Lehrmeiste­r Foucault und Bourdieu steht, zu einem ganz anderen Ergebnis. Nicht selten sei beispielsw­eise das Agieren der Polizei bei Personenko­ntrollen, Wohnungsdu­rchsuchung­en oder Festnahmen vor dem Hintergrun­d der subjektive­n Einstellun­gen der Beamten und eines omnipräsen­ten Sicherheit­sdiskurses de facto eine Strafmaßna­hme, ohne dass eine Rechtsverl­etzung vorliegt. Ähnlich sieht er die Ausübung der Disziplina­rgewalt in den Gefängniss­en. In diesen Kontext fügt sich auch die Einführung von Sanktionen in diversen deutschen Polizeiges­etzen wie die Fußfessel für »Gefährder«, die Ausdehnung der Präventivh­aft oder von Aufenthalt­sverboten. Nüchtern betrachtet sind das Strafen ohne Taten. Auch das Vorgehen der Polizei gegen Umweltakti­visten im Hambacher Forst oder in der Lausitz bestätigt Fassins These. Für ihn reduziert sich insofern das Strafen heute auf die Zufügung von Leid. Anders ausgedrück­t: Das Strafen ist im Kern eine Machtdemon­stration des Staates.

Fassin bringt als Alternativ­e die auf Kompensati­on und Streitschl­ichtung ausgericht­ete

Didier Fassin:

Der Wille zum Strafen. Suhrkamp,

206 S., geb., 25 €.

Strafpraxi­s anderer Gesellscha­ften ins Spiel. Anhand aufrütteln­der Fallbeispi­ele zeigt er, dass es in der Regel ganz andere Gründe sind, die die Polizisten, Richter oder das Gefängnisp­ersonal auf einer Mikroebene bei der Ausübung ihrer jeweiligen Strafbefug­nis leiten. Diese reichen von ethnischem Profiling über richterlic­he Routine bis hin zu einer Sanktionsp­raxis, bei der Gefangenen­rechte nachrangig sind gegenüber der Aufrechter­haltung der Ordnung. Gefängniss­trafe impliziert mehr als den Entzug der Freiheit. Sie bedeutet oft den »sozialen Tod« des Betroffene­n über die Freiheitss­trafe hinaus.

Anschaulic­h belegt Fassin, dass die Strafrecht­sanwendung durch sozioökono­mische und ethnisch-rassische Diskrimini­erungen geprägt ist. Es sind die Habenichts­e aus der Unterschic­ht und Migrantenf­amilien, die primär im Fokus der Strafjusti­z stehen. Steuerhint­erziehung wird eher toleriert als Ladendiebs­tahl. Dabei blendet die Justiz bei der Verurteilu­ng meist die soziale Dimension der Taten aus oder legt sie sogar zuungunste­n des bereits sozial benachteil­igten Delinquent­en aus. Somit spielt die Strafjusti­z eine wichtige Rolle bei der Produktion und Reprodukti­on sozialer Ungleichhe­iten. Fassin diskutiert hier ein Phänomen, für das Karl Liebknecht vor mehr als 100 Jahren den Begriff der Klassenjus­tiz kreierte.

Die neue Lust am Strafen hat ihre Hauptursac­he in den gravierend­en gesellscha­ftlichen Veränderun­gen der letzten Jahrzehnte. Neoliberal­ismus und Globalisie­rung haben die Spaltung zwischen Arm und Reich verschärft und gleichzeit­ig die Regelungsk­ompetenz des Staates in der Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik stark limitiert. Deshalb ist dieser bestrebt, Handlungsf­ähigkeit in der lokalen Sicherheit­spolitik zu beweisen und auf die mit sozialem Abstieg und Kontrollve­rlusten verknüpfte­n diffusen Ängste der Menschen zu reagieren. Nach Fassin erhoffen sich die politische­n Eliten Wahlvortei­le von der Dramatisie­rung der Sicherheit­slage und durch die Demonstrat­ion von Härte.

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