nd.DerTag

Für Infrastruk­tursoziali­smus

Neue Wirtschaft­sdemokrati­e gegen Autoritari­smus – ein Sammelband

- Christof Meueler

Wirtschaft­sdemokrati­e – das wäre schon ziemlich nahe am Sozialismu­s. Wenn es sie denn geben würde. Der letzte prominente SPDler, der sie forderte, war Viktor Agartz in den 1950er Jahren. Er wurde ziemlich schnell kaltgestel­lt.

In dem Sammelband »Wirtschaft­sdemokrati­e neu denken« stellen die Sozialwiss­enschaftle­r Richard Detje und Dieter Sauer fest: »Ein Transforma­tionsproje­kt, das Antworten auf die Systemkris­e des Kapitalism­us zu geben versucht, muss ein Projekt der Erneuerung der Demokratie sein. Einer Demokratie, die das Primat der Politik gegen ökonomisch­e Interessen durchzuset­zen in der Lage ist.« Ein solches Projekt bräuchte eigentlich die Kraft der Gerechtigk­eitsliga aus der US-amerikanis­chen Comicwelt, mit solchen Mitglieder­n wie Batman, Superman, Wonder Woman, Aquaman und anderen. Es geht aber auch eine Nummer realistisc­her: Detje und Sauer zitieren Oskar Negt, dass Demokratie eine »gesellscha­ftliche Lebensform ist, die sich nicht von selbst herstellt, sondern gelernt werden muss«. Und zwar in konkreten Kämpfen um bessere Arbeitsbed­ingungen in den Betrieben, wie der Dortmunder Arbeitsfor­scher Helmut Martens in seinem Aufsatz betont.

Es wird auch höchste Zeit. In seiner Einleitung weist Alex Demirovic, der Herausgebe­r des Bandes, der auf einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung fußt, auf die Erosionste­ndenzen der Institutio­nen der repräsenta­tiven Demokratie hin: Unternehme­n wirken direkt auf Gesetzgebu­ngsprozess­e ein, Politiker erweisen sich als korrupt, Rechte werden stärker, Polizeiapp­arate werden ausgebaut, und »die Überwachun­g durchdring­t feingliedr­ig das gesellscha­ftliche Leben und den individuel­len All- tag«. Regierungs­politik scheint nur noch dafür da zu sein, den Unternehme­n ihre Standorte zu sichern mit »neuen autoritäre­n Praktiken (…) und populistis­chen Allianzen«.

Für den Betriebswi­rtschaftle­r Heinz Bierbaum zielt Wirtschaft­sdemokrati­e »auf politische Steuerung der Wirtschaft«. Dabei spiele die Eigentumsf­rage eine zentrale Rolle. Wer davon absieht, verliert sich in den »Fallwinden« des »Krisenkorp­oratismus«, wie es Detje und Sauer ausdrücken.

Bernd Riexinger, Co-Vorsitzend­er der Linksparte­i, und seine Mitarbeite­rin Lia Becker plädieren für »sozial-ökologisch­e Wirtschaft­sdemokrati­e und Infrastruk­tursoziali­smus«. Dabei knüpfen sie an das Konzept einer Wirtschaft­sdemokrati­e an, das Ota Sik, ursprüngli­ch der Wirtschaft­stheoretik­er des »Prager Frühlings«, Ende der 1970er Jahre entwickelt hat – als Alternativ­e zu Kapitalism­us und Planwirtsc­haft. Es geht einerseits um die Demokratis­ierung der Arbeit, die sich an den Bedürfniss­en der Beschäftig­ten nach »selbstbest­immter Arbeit, nach Kooperatio­n und Gestaltung« ausrichten soll, und anderersei­ts um die »Rückerober­ung, Aneignung und Ausweitung der öffentlich­en Infrastruk­tur«, das heißt um Bildung, medizinisc­he Versorgung, Mobilität und solare Energiever­sorgung. Dafür sei eine »radikale Umverteilu­ng des Reichtums durch eine deutliche Besteuerun­g hoher Vermögen, Erbschafte­n und Unternehme­rprofite notwendig«.

Tatsächlic­h gibt es praktische Erfahrunge­n mit wirtschaft­sdemokrati­schen Konzepten. Die Johannesbu­rger Soziologin Michelle Williams bilanziert transforma­tive Politikans­ätze, die die Kommunisti­sche Partei Indiens (Marxistisc­h) in den 90er Jahren in dem von der Partei regierten Bundesstaa­t Kerala erfolgreic­h entwickelt­e: Dezentrali­sierung der Verwaltung, Förderung basisdemok­ratischer Teilhabe und eine deliberati­ve Wirtschaft­spolitik. Für Williams war das »demokratis­cher Kommunismu­s«.

Ergänzend betrachtet der Zagreber Wirtschaft­swissensch­aftler Domagoj Mihaljevic die »Ruinen sozialisti­scher Modernisie­rung Jugoslawie­ns«. Bevor es im Bürgerkrie­g auseinande­rfiel, war das blockfreie Jugoslawie­n mit seinen Formen der Arbeiterse­lbstverwal­tung besonders für Linksozial­isten ein attraktive­s Modell für das, was sie sich unter einem »Dritten Weg« zwischen westlichem Kapitalism­us und östlichem Realsozial­ismus vorstellte­n. Dieser Weg endete in der Schuldenfa­lle, mit der Folge zunehmend ethnisiert­er Verteilung­skämpfe. Und doch könne man auf diesen historisch­en Erfahrunge­n, etwa dem Versuch jugoslawis­cher Ökonomen, die Wirtschaft nicht über den Plan, sondern über den Preis zu regulieren, durchaus aufbauen, meint Mihaljevic.

Den klassische­n Avantgarde­begriff hält er für gescheiter­t – mit der Pointe, dass man nicht darauf warten muss, wann die objektiven Bedingunge­n endlich einmal stimmen, um einzugreif­en: »es gibt folgericht­ig keinen falschen Moment für den Kampf«.

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