Für Infrastruktursozialismus
Neue Wirtschaftsdemokratie gegen Autoritarismus – ein Sammelband
Wirtschaftsdemokratie – das wäre schon ziemlich nahe am Sozialismus. Wenn es sie denn geben würde. Der letzte prominente SPDler, der sie forderte, war Viktor Agartz in den 1950er Jahren. Er wurde ziemlich schnell kaltgestellt.
In dem Sammelband »Wirtschaftsdemokratie neu denken« stellen die Sozialwissenschaftler Richard Detje und Dieter Sauer fest: »Ein Transformationsprojekt, das Antworten auf die Systemkrise des Kapitalismus zu geben versucht, muss ein Projekt der Erneuerung der Demokratie sein. Einer Demokratie, die das Primat der Politik gegen ökonomische Interessen durchzusetzen in der Lage ist.« Ein solches Projekt bräuchte eigentlich die Kraft der Gerechtigkeitsliga aus der US-amerikanischen Comicwelt, mit solchen Mitgliedern wie Batman, Superman, Wonder Woman, Aquaman und anderen. Es geht aber auch eine Nummer realistischer: Detje und Sauer zitieren Oskar Negt, dass Demokratie eine »gesellschaftliche Lebensform ist, die sich nicht von selbst herstellt, sondern gelernt werden muss«. Und zwar in konkreten Kämpfen um bessere Arbeitsbedingungen in den Betrieben, wie der Dortmunder Arbeitsforscher Helmut Martens in seinem Aufsatz betont.
Es wird auch höchste Zeit. In seiner Einleitung weist Alex Demirovic, der Herausgeber des Bandes, der auf einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung fußt, auf die Erosionstendenzen der Institutionen der repräsentativen Demokratie hin: Unternehmen wirken direkt auf Gesetzgebungsprozesse ein, Politiker erweisen sich als korrupt, Rechte werden stärker, Polizeiapparate werden ausgebaut, und »die Überwachung durchdringt feingliedrig das gesellschaftliche Leben und den individuellen All- tag«. Regierungspolitik scheint nur noch dafür da zu sein, den Unternehmen ihre Standorte zu sichern mit »neuen autoritären Praktiken (…) und populistischen Allianzen«.
Für den Betriebswirtschaftler Heinz Bierbaum zielt Wirtschaftsdemokratie »auf politische Steuerung der Wirtschaft«. Dabei spiele die Eigentumsfrage eine zentrale Rolle. Wer davon absieht, verliert sich in den »Fallwinden« des »Krisenkorporatismus«, wie es Detje und Sauer ausdrücken.
Bernd Riexinger, Co-Vorsitzender der Linkspartei, und seine Mitarbeiterin Lia Becker plädieren für »sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie und Infrastruktursozialismus«. Dabei knüpfen sie an das Konzept einer Wirtschaftsdemokratie an, das Ota Sik, ursprünglich der Wirtschaftstheoretiker des »Prager Frühlings«, Ende der 1970er Jahre entwickelt hat – als Alternative zu Kapitalismus und Planwirtschaft. Es geht einerseits um die Demokratisierung der Arbeit, die sich an den Bedürfnissen der Beschäftigten nach »selbstbestimmter Arbeit, nach Kooperation und Gestaltung« ausrichten soll, und andererseits um die »Rückeroberung, Aneignung und Ausweitung der öffentlichen Infrastruktur«, das heißt um Bildung, medizinische Versorgung, Mobilität und solare Energieversorgung. Dafür sei eine »radikale Umverteilung des Reichtums durch eine deutliche Besteuerung hoher Vermögen, Erbschaften und Unternehmerprofite notwendig«.
Tatsächlich gibt es praktische Erfahrungen mit wirtschaftsdemokratischen Konzepten. Die Johannesburger Soziologin Michelle Williams bilanziert transformative Politikansätze, die die Kommunistische Partei Indiens (Marxistisch) in den 90er Jahren in dem von der Partei regierten Bundesstaat Kerala erfolgreich entwickelte: Dezentralisierung der Verwaltung, Förderung basisdemokratischer Teilhabe und eine deliberative Wirtschaftspolitik. Für Williams war das »demokratischer Kommunismus«.
Ergänzend betrachtet der Zagreber Wirtschaftswissenschaftler Domagoj Mihaljevic die »Ruinen sozialistischer Modernisierung Jugoslawiens«. Bevor es im Bürgerkrieg auseinanderfiel, war das blockfreie Jugoslawien mit seinen Formen der Arbeiterselbstverwaltung besonders für Linksozialisten ein attraktives Modell für das, was sie sich unter einem »Dritten Weg« zwischen westlichem Kapitalismus und östlichem Realsozialismus vorstellten. Dieser Weg endete in der Schuldenfalle, mit der Folge zunehmend ethnisierter Verteilungskämpfe. Und doch könne man auf diesen historischen Erfahrungen, etwa dem Versuch jugoslawischer Ökonomen, die Wirtschaft nicht über den Plan, sondern über den Preis zu regulieren, durchaus aufbauen, meint Mihaljevic.
Den klassischen Avantgardebegriff hält er für gescheitert – mit der Pointe, dass man nicht darauf warten muss, wann die objektiven Bedingungen endlich einmal stimmen, um einzugreifen: »es gibt folgerichtig keinen falschen Moment für den Kampf«.