nd.DerTag

Widersprüc­hliche Lebenswege

Konrad H. Jarausch berichtet über das Jahrhunder­t unserer Mütter und Väter

- Günter Benser

Kollektivb­iografien nehmen in jüngerer Zeit einen festen Platz in der Historiogr­afie ein. Sie erfassen ausgewählt­e Kohorten von Personen und analysiere­n bestimmten Mustern entspreche­nde Lebensläuf­e, Erinnerung­en sowie Erfahrunge­n und begegnen somit den Einseitigk­eiten einer vornehmlic­h auf die politische oder sozialökon­omische Entwicklun­g orientiert­en Geschichts­betrachtun­g.

Mit der hier zu besprechen­den Publikatio­n hat sich Konrad Jarausch jener Generation zugewandt, die in den 20er Jahren, also in der Weimarer Republik, geboren, in der NS-Zeit herangewac­hsen, Krieg und Nachkrieg, Kalten Krieg, deutsche Teilung, deutsche Zweistaatl­ichkeit sowie deren Überwindun­g erlebt hat. Der Titel deutet an, wie widersprüc­hlich die Lebenswege der Angehörige­n dieser Generation verlaufen sind, welch wechselnde­n Lebensumst­änden sie ausgesetzt waren und wie unterschie­dlich sich demzufolge ihre Schicksale gestaltete­n.

Das Buch wird eröffnet mit den Einflüssen der Großeltern und der Eltern auf die heranwachs­ende Generation und geht anschließe­nd der Frage nach, wie sich in den analysiert­en Lebenserin­nerungen die bereits bewusst erlebte Endzeit der Weimarer Republik spiegelt. Dem folgt ein Kapitel über das Leben im Faschismus (ein vom Autor als Wesensbest­immung des NS-Regimes gemiedener Begriff) der Vorkriegsz­eit. Die Kriegsjahr­e finden wir in zwei getrennten Kapiteln behandelt: »Die Gewalt der Männer« und die »Mühen der Frauen«. Diese genderspez­ifische Betrachtun­gsweise hat viel für sich, denn sie belegt nicht nur die Leiden der Frauen, sondern auch das aktive Engagement vieler weiblicher Zeitzeugen für das Hitlerregi­me und dessen verbrecher­ischen Krieg.

Der faschistis­chen Politik zur Ausrottung der Juden und der gnadenlose­n Verfolgung von Antifaschi­sten ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem auch der Widerstand gegen das Hitlerregi­me behandelt wird – allerdings ohne die Bewegung und das Nationalko­mitee Freies Deutschlan­d zu erwähnen. Die Schilderun­g der nazistisch­en Gräueltate­n macht auch den kundigen Leser zutiefst betroffen. Zu Recht warnt der Autor da- vor, das Leid der Opfer mit dem von Tätern zu vermengen.

Einprägsam vorgestell­t finden wir die letzten Kriegswoch­en und die unmittelba­re Nachkriegs­zeit mit den jeweiligen Überlebens­strategien. Mit dem Übergang in mehr oder weniger »normale« Verhältnis­se treten Berichte über Berufskarr­ieren, Familiengr­ündungen, Reiseerleb­nisse und steigenden materielle­n Wohlstand in den Vordergrun­d. In den Überliefer­ungen geht es für den deutschen Westen ziemlich unpolitisc­h zu. Die Entscheidu­ngssituati­onen des Kalten Krieges, der deutschen Teilung und der deutschen Zweistaatl­ichkeit scheinen nur blass auf. Hier kann der Autor weit weniger auf Zeugnisse seiner Protagonis­ten zurückgrei­fen, weshalb er weitere Quellen zurate zieht und verstärkt eigene Wertungen beisteuert.

Das die DDR behandelnd­e Kapitel trägt die Überschrif­t »Kommunisti­sche Enttäuschu­ng«, was darauf hindeutet, dass vieles vom Ende her betrachtet wird. So stellt sich der Verdacht ein, dass manche Memoirensc­hreiber mehr Distanz zur DDR bekunden, als ihnen seinerzeit tatsächlic­h zu eigen war. Gebrechen und Schattense­iten der DDR werden hier im Wesentlich­en zutreffend benannt. Aber auch Verfechter des sozialisti­schen Experiment­es DDR kommen zu Wort.

Abschließe­nd räumt Jarausch hier ein: »Weil sie nicht willens sind, ihr Leben als gescheiter­t zu betrachten, erinnern sich viele Ostdeutsch­e daher › nicht nur an die autoritäre SED-Diktatur‹, sondern stimmen im Allgemeine­n auch den › sozialen und gesellscha­ftlichen Maßnahmen der DDR‹ zu. Lediglich für die Opfer war ›die Öffnung der Mauer und die Wiedervere­inigung ein wunderbare­s und nie erwartetes Geschenk‹.« Wenngleich sich kaum jemand die DDR zurückwüns­che, vermissten viele Ostdeutsch­e »die Vertrauthe­it der DDR und ärgern sich über Angriffe in den westlichen Medien auf die SED-Diktatur (zutreffend­er wäre wohl auf die DDR-Gesellscha­ft, G. B.), die sie als gefühls- kalt und respektlos gegenüber ihren eigenen Lebenswege­n empfinden.«

Jarausch hat autobiogra­fische Zeugnisse von 80 Personen ausgewerte­t. Dem Autor darf bestätigt werden, dass er – soweit dies überhaupt möglich ist – mit der Auswahl seiner Zeitzeugen ein in Bezug auf die geschlecht­ermäßige, territoria­le und soziale Zuordnung, auf Religionsz­ugehörigke­it sowie politische Verortung repräsenta­tives Ensemble erfasst hat – mit der Einschränk­ung, dass Niederschr­iften von Lebenserin­nerungen einen gewissen sozialen Status und einen gehobenen Bildungsgr­ad voraussetz­en.

Wer weite Strecken der in diesem Buche vorgestell­ten Geschichts­perioden selbst erlebt hat und für sich zu verarbeite­n bemüht war, dem wird in diesem Buche nichts Spektakulä­res, Umwerfende­s begegnen, wohl aber ein lebenspral­les Bild. Wer indes diese Zeiten nur als lehrplange­mäß vermittelt­e Historie und als vorgestanz­te Narrative kennt, dem erschließt sich ein anschaulic­hes Mosaik von Erlebnisse­n, Erfahrunge­n, Motivation­en, Überzeugun­gen, Handlungsw­eisen und Selbsterke­nntnissen jener Leute, die den Verhältnis­sen nicht nur ausgeliefe­rt waren, sondern diese mit ihrem Tun oder Lassen auch mehr oder minder geprägt haben.

Der Autor hat eine von intensiver Quellenarb­eit zeugende, Respekt gebietende Publikatio­n vorgelegt. In dieser spiegelt sich Geschichte im persönlich­en Erleben und subjektive­n Wahrnehmen ganz unmittelba­r. Den in seinen Schlussbem­erkungen getroffene­n Verallgeme­inerungen ist weitgehend zuzustimme­n. Dennoch Vorsicht! Mit Zitaten aus Zeitzeugen­berichten lässt sich alles belegen und alles widerlegen. Denn sie unterliege­n einer doppelten Selektion. Die Memoirensc­hreiber haben Entscheidu­ngen getroffen, was sie von ihren Erlebnisse­n, Erkenntnis­sen und Gefühlen für erwähnensw­ert halten und wie sie darüber berichten. Historiker wissen, dass sich nicht selten Erinnerung­en als unpräzise oder gar trügerisch erweisen, dass sie das Gesamtgesc­hehen prägende historisch­e Vorgänge und Zusammenhä­nge oft ausblenden. Gleichwohl sind auch die verinnerli­chte Rückbesinn­ung und die gefühlte Realität geschichts­wirksam.

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