Die Deutschen liebte er nicht
Armin Jähne porträtiert den letzten russischen Zar, Nikolaus II.
»Der Monarch war ein kluger und gebildeter Mensch mit einem gewaltigen Gedächtnis. … Er liebte körperliche Betätigung … In seinen Bedürfnissen war er sehr bescheiden. … Er war überaus religiös. … Die Deutschen liebte er nicht, ja konnte sie nicht ausstehen … Er besaß keinen festen Charakter und ordnete sich seiner Gemahlin unter ... Kennzeichnendes Merkmal ihrer Natur war die Neigung zu herrschen.«
Diese Charakterisierung gab der zaristische Oberst Kobylinski, verantwortlich für die Bewachung der in der Februarrevolution 1917 in Zarskoje Selo und Tobolsk inhaftierten Zarenfamilie, im April 1919 in Jekaterinburg zu Protokoll. Er offenbarte damit eine Denkhaltung, die in der monarchisch gesinnten russischen Gesellschaft und Geschichtsschreibung bis 1917 verbreitet war und heute in patriotischer Gesinnung wieder auflebt.
Armin Jähne, der seine hervorragenden Russischkenntnisse als Student und Aspirant in Moskau erwarb, hat die 1924 in Berlin in der russischen Emigrantenzeitschrift »Istorik i Sowremennik« (Historiker und Zeitgenosse) abgedruckten Protokolle zum »Mordfall Imperator Nikolaus II.« wiederentdeckt und erstmals in Gänze akkurat ins Deutsche übersetzt. Sie geben detailliert Einblick in das Leben und die neuen Lebensumstände der ehemaligen Zarenfamilie vom Moment ihres Hausarrestes in Zarskoje Selo am 7. März 1917 bis zu ihrer Ermordung in Jekaterinburg am 17. Juli 1918 sowie in das Verhalten der sie bewachenden und schließlich mordenden Personen.
Dieser wichtigen, kaum bekannten Quellenbasis hat Jähne eine komprimierte, spannend erzählte Darstellung urteilsfreudig vorangestellt. Der Autor beschreibt darin den Lebensweg des Zaren, eingebettet in die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse bis zum Ende der Monarchie und in den Umbrüchen und Wirren der Revolutionszeit mit Akteuren wie Stolypin, Rasputin, Kerenski und Lenin.
Die Kernaussagen des Autors lauten: Nikolaus II. blieb in seinem ganzen Denken und Handeln ein zutiefst überzeugter Autokrat, dem Volke als blutiger Despot verhasst. Er war nie ein politischer Vorreiter und Impulsgeber. Es fehlte ihm jener politische Instinkt, der einen erfolgreichen Staatsmann auszeichnet und im rechten Moment richtig handeln lässt. Grigori Rasputin, der sibirische »Heilige«, dem Jähne aussagekräftige Aufmerksamkeit widmet, war mit seiner beruhigenden, heilsamen Wirkung auf den lebensgefährlich kranken Thronerben Alexej für die Zarenfamilie unabkömmlich. Zugleich war er eine schillernde Figur im großen Machtpoker anderer.
Die Provisorische Regierung hatte nicht vermocht, das »Problem Nikolaus II.« zu lösen; Abschiebeversuche ins Ausland und Gerichtsverfahren scheiterten. Die Bolschewiki »erbten« es. Angesichts des He- rannahens weißgardistischer Truppen beschloss das Exekutivkomitee des Uraler Gebietssowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten am 14. Juli die Erschießung der Zarenfamilie, die am 17. Juli frühmorgens im Keller des IpatjewHauses in bestialischer Weise erfolgte – ein »politischer Mord«, eine »politische Dummheit«. Das Moskauer Zentrale Exekutivkomitee hat den Hinrichtungsbeschluss möglicherweise sogar initiiert, diesem auf jeden Fall Vorschub geleistet, davon gewusst und ihn letztlich für richtig befunden. Ein lange im Voraus bedachter Mordplan zur Ausrottung der Romanow-Dynastie kann der Moskauer Regierung und der regionalen Führung der Bolschewiki nicht unterstellt werden, so der Autor.
Nikolaus’ Tod dient im heutigen Russland zur neuerlichen Verklärung einer umstrittenen, fragwürdigen Vergangenheit. Ein lesenswertes Buch von einem kundigen Autor aus einem kleinen Verlag im Nachklang auf die Ereignisse vor 100 Jahren.