Wider Legenden und Mythen
Vom »Kriegssozialismus« zur Novemberrevolution
Drei für ihre kritische Sicht auf Revolution und Konterrevolution bekannte Autoren tragen mit ihren Studien zur wissenschaftlichen und geschichtspolitischen Debatte bei, die sich rund um das Jahrhundertgedenken an die Revolution von 1918/19 erfreulicherweise entwickelt hat.
Heiner Karuscheit schlägt den Lesern eine völlig neue, von aller bisherigen Geschichtsschreibung abweichende Sicht auf die Politik der Sozialdemokratie in der Novemberrevolution vor. Sein Ausgangspunkt ist keineswegs neu, nämlich die herausragende Verantwortung der sozialdemokratischen Parteiführung um Friedrich Ebert beim Bremsen und schließlichen Zerschlagen der Revolutionsbewegung wie auch für die Unterlassung von Demokratisierungsmaßnahmen, die der Weimarer Demokratie Nachhaltigkeit hätten verleihen können. Neu ist freilich die Behauptung, die Gründe dafür müssten neu bedacht werden und die Rolle der Sozialdemokratie sei anders einzuordnen als bisher üblich. Die Parteiführung um Ebert sei weder in eine ungewollte Verantwortung gestolpert, noch sei sie reformistischen Vorstellungen gefolgt.
Karuscheit erklärt es zum Fehler, die »verbürgerlichte« SPD-Führung wegen einer reformistischen, bürgerlich-demokratischen Konzeption und Politik zu kritisieren. Sie habe vielmehr eine »preußisch-obrigkeitliche Staatskonzeption« umgesetzt, die sich in den Vorkriegsjahren im Parteizentrum um August Bebel und Karl Kautsky herausgebildet habe. Eben deshalb habe sie nicht nur sozialistische Forderungen, sondern auch bürgerlich-demokratische Aufgaben wie Landreform und Entmachtung des auf den Adel gestützten Militarismus ins Leere lau- fen lassen. Um diese Position zu begründen, bemüht Karuscheit unvollständige und kaum differenziert betrachtete Prozesse der machtstrukturellen Entwicklung des Kaiserreichs und eine kleine Auswahl von Sätzen führender Vertreter des SPD-Zentrums, mit denen er zu beweisen sucht, dass sich diese in den »Junkerstaat« integriert hätten, dessen wahren Charakter verkennend. Ziel der so »entlarvten« SPD war also nicht eine bürgerlich-demokratische Republik, sondern die Übernahme des »Junkerstaats« in eigene Regie.
Folgerichtig nennt Karuscheit den von der Arbeiter- und Soldatenratsbewegung sowie ihren Anhängern erkämpften Wechsel von der wilhelminischen Monarchie zur demokratischen Republik, der mit bedeutenden politischen und sozialen Reformen verbunden war, einen Vorgang, der zu einem »im Gewand der Republik weiter existierenden Junkerstaat« geführt habe.
Klaus Wernecke entwickelt in seiner Studie »Gewalt von oben und Gewalt von unten« Aspekte einer kritischen »Gewalt«-Geschichte der deutschen Revolution 1918/19. Dies geschieht weitgehend durch eingehendes Hinterfragen des 2017 erschienenen, viel gelobten und diskutierten Buches von Mark Jones »Am Anfang war Gewalt«. Werneckes Feststellung, Jones’ Darstellung hebele die Verantwortlichkeiten für die konterrevolutionäre Gewalt aus, ist zwar zu widersprechen, denn Jones zeigt sehr wohl und eindeutig die Ver- antwortlichen in der Kooperation von rechter SPD-Führung um Ebert und Gustav Noske und der unangetasteten Obersten Heeresleitung um General Groener. Bezeichnend dafür ist sein Satz im Zusammenhang mit den Bestialitäten der Konterrevolution gegen die Berliner Januarkämpfer 1919: »Der Ebert-Groener-Pakt war jetzt mit Blut besiegelt.«
Zutreffend aber macht Wernecke geltend, dass Jones’ unter dem selektiven methodologischen Aspekt seiner Revolutionsbetrachtung mentalgeschichtlich psychologisiert, wo die sich gegenüberstehenden Kräfte hätten analysiert werden müssten. Weil wesentliche Seiten der Ursachen und des Verlaufs der Revolution unbeachtet bleiben, wird die Gewalt oft einseitig auf die handlungslenkende Kraft der Gerüchteküche, auf Ängste und Autosuggestionen zurückgeführt statt auf politische Strategien der gewaltausübenden Konterrevolution. Werneckes Studie ist so ein begrüßenswerter Beitrag zur De- batte um die Gewalt in der Revolution und ihrer Einordnung ins Ganze der Revolutionsgeschichte.
Bernhard Sauer beschließt den Band mit der Studie »Der ›Spartakusaufstand‹. Legende und Wirklichkeit«. Er zeichnet den Verlauf der Ereignisse im Januar 1919 nach und polemisiert gegen die Bezeichnung »Spartakusaufstand« für die spontan einsetzenden Januarkämpfe großer Teile der Berliner Arbeiterschaft, die ihrer Empörung über den Vormarsch der Konterrevolution sowie über die bisher halbherzigen Resultate der Revolution Ausdruck verliehen und ihre Chance suchten, die Revolution weiter voranzutreiben.
Die Aktion blieb, auch als es einen »Revolutionsausschuss« aus Revolutionären Obleuten der Metallarbeiter, Funktionären der Berliner USPD und wenigen Vertretern der gerade gegründeten KPD gab, letztlich führungslos. Der kleinen Streitmacht fiel dabei keineswegs eine führende Rolle zu, die den Begriff »Spartakusunruhen« gerechtfertigt hätte. Der Versuch, die spontane Massenaktion in einen Aufstand zu überführen, scheiterte und wurde überdies von den Truppen Gustav Noskes zusammengeschossen.
Von einem »Spartakusaufstand« konnte also gar keine Rede sein. Der Begriff wurde zum denunziatorischen Kampfbegriff gegen alle, die über die bisherigen Resultate der Revolution hinauswollten. Aber noch immer geistert er durch die bürgerliche und Teile der sozialdemokratischen Literatur. Seine Verwendung ähnelt der heute bei Konservativen und Rechtsliberalen üblichen Methode, Vorschläge zur sozialen Reform der Gesellschaft mit Warnungen vor der Wiederkehr des Sozialismus zu beantworten. Der Begriff »Spartakusaufstand« fand übrigens nicht einmal Eingang in den Bericht des Untersuchungsausschusses der Preußischen Landesversammlung von 1921 über die »Januar-Unruhen in Berlin 1919«.
Wer an der virulenten Diskussion über Ursachen, Verlauf, Ergebnisse und Deutung der deutschen Revolution teilnehmen möchte, sollte dieses Buch zur Hand nehmen und mit kritischen Augen studieren.