Rast- und ruhelos auf der Suche
Renate Brucker erinnert an die Pazifistin, Frauenrechtlerin und Anarchokommunistin Clara Wichmann
»Eine Verteidigerin der Menschlichkeit« nannte der protestantische Pfarrer und Antimilitarist Bart de Ligt die 1922 erst 36-jährig verstorbene Clara Wichmann, die unter ihren heutigen Juristenkollegen völlig un- oder wenig bekannt ist, umso mehr jedoch in pazifistischen und libertär-sozialistischen bzw. anarchistischen Kreisen. In seiner Rede zur Beerdigung der klugen wie mutigen Frau verglich Bart de Ligt sie mit dem »goldenen Mädchen« aus Rembrandts »Nachtwache«: »Niemand kann sie, diesen absichtslos strahlenden Mittelpunkt, ersetzen.«
Geboren 1885 in Hamburg als Tochter eines Geologen, der wenig später das Geologische Institut an der Universität Utrecht aufbaute und oft zu Forschungen in Niederländisch-Indien und Neuguinea weilte, machte Clara – wie der Leser von ihrer Biografin Renate Brucker erfährt – zunächst in Holland ihr Staatsexamen als Lehrerin, um ein Studium der Geschichte und der Rechtswissenschaft anzuschließen. 1912 promovierte sie mit »cum laude« über die historischen Grundlagen der Umformung des Strafbegriffs. Die Reform des Strafrechts sollte fortan eines ihrer wichtigsten gesellschaftlichen Anliegen sein.
Außerdem betätigte sie sich früh in der Frauenbewegung. 1907 gründete sie die Utrechter Abteilung des gemäßigt feministischen Niederländischen Bundes für Frauenwahlrecht, der politisch neutral sein wollte, was sie alsbald als ungenügend kritisierte. Für sie gehörte die Verbesserung der gesellschaftlichen und rechtlichen Stellung der Frau eng mit der ökonomischen Emanzipation zusammen. Sie arbeitete am enzyklopädischen Handbuch »Die Frau, die Frauenbewegung und die Frauenfrage« mit, wirkte engagiert im Revolutionär-Sozialistischen Frauenbund und machte aus ihren Überzeugungen auch an der Internationalen Schule für Philosophie in Amersfoort keinen Hehl, wo sie als Dozentin angestellt war. Als Pazifistin verurteilte sie aufs Entschiedenste den Krieg, der im August 1914 ausbrach. Den Kriegsdienstverweigerer Jonas Benjamin Meijer beriet sie juristisch. Aus der Brieffreundschaft mit dem zehn Jahre jüngeren Mann während dessen Haftzeit erwächst Liebe und eine Ehe; bei Geburt der Tochter Hetty starb sie. Ein engagiertes, leidenschaftliches Leben war abrupt ausgelöscht.
Clara Wichmann schien unruhig und ungeduldig auf der Suche nach der richtigen politischen Heimat. So hatte sie erst dem Bond van Christen-Sozialisten angehört und für dessen Zeitung »Opwaarts« Artikel verfasst, wandte sich aber dann wegen dessen strikter Fokussierung auf die Allmacht von Gott wieder ab. Mit Bart de Ligt gründete sie den Bond van RevolutionairSocialistische Intellektuellen, war Mitherausgeberin und Autorin der Bundeszeitschrift »De Nieuwe Amsterdammer«. Später trat sie dem Bond van Religieuze Anarcho-Communisten bei, der von den Ideen des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi sowie der italienischen Reformpädagogin Maria Montessori beeinflusst war, und schrieb für dessen Organ »De Vrije Communist«.
Renate Brucker ist zu danken, dass sie Clara Wichmann selbst zu Wort kommen lässt. So erfährt man, dass sie die Vorstellung einer linearen Entwicklung der Geschichte, von der manche Marxisten und historische Materialisten ausgingen, ablehnte: »Ich glaube nicht, dass die Welt sich auf ein Ziel zu bewegt.« Der höhere Stellenwert des subjektiven Faktors im Syndikalismus sagte ihr eher zu. Auch lehnte sie die – ihrer Ansicht nach – autoritären Konzepte des Sozialismus und Kommunismus ab. Klar erkannte Clara Wichmann die Verbürgerlichung der seinerzeitigen Sozialdemokratie, aber auch der Gewerkschaften.
In dem hier abgedruckten Aufsatz »Die Frau und die Friedensbewegung« vom April 1917 fordert sie einen Pazifismus, der sich nicht allein gegen das Führen von Kriegen richtet, son- dern nationalen Wahn generell geißelt, »die jämmerliche Verblendung, mit der die Völker bis heute fast die ganze Erde verwüstet haben«. In »Noch nicht reif für den Sozialismus?« vom Januar 1920 polemisiert sie mit Saint Simon gegen Eduard Bernstein: »Die, die sich zu Unrecht Evolutionisten nennen, halten direkten Aktionen für den Sozialismus entgegen, dass die gegenwärtige Menschheit noch nicht reif dafür wäre.« Kämpferisch gibt sie sich auch in »Klassenjustiz« vom Februar 1920: »Solange es eine Klassengesellschaft gibt, bleibt darin eine Klassenjustiz bestehen.«
Heutige Linke jeglicher Couleur sollten unbedingt die Texte der Clara Wichmann lesen, denn vieles, was sie anmerkte und bemerkte, kritisierte und anklagte, vorschlug und empfahl, ist nach wie vor aktuell.