nd.DerTag

Auch über die Reichsbürg­er wusste man Bescheid

Wie die Stasi die westdeutsc­he Neonazisze­ne infiltrier­te, berichtet Andreas Förster

- Helmut Müller-Enbergs

Am 10. November 1979, morgens um 1.26 Uhr, passierte es. Ein Ereignis, über das zwei Tage später das »Neue Deutschlan­d« auf der Titelseite berichtete: Bei Meiningen hatte eine Sprengstof­fexplosion gut 50 Meter der Staatsgren­ze umgelegt. Als Täter geriet der Chemieinge­nieur Peter Naumann in Verdacht, was die Abteilung XXII des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit allerdings erst zwei Jahre später bestätigte.

Naumann war ein langjährig­er NPD-Funktionär gewesen. Den entscheide­nden Tipp auf ihn, so Sachbuchau­tor Andreas Förster, habe der Neonazi Odfried Hepp nach seiner Flucht in die DDR gegeben, wo er ab 1982 in den Unterlagen des MfS als Informelle­r Mitarbeite­r »Friedrich« verzeichne­t ist – ein Mann, den man als Rechtsterr­oristen ansehen sollte, war also eine der wichtigen Quellen in der DDR über diese Szene.

Um solche Anschläge wie den in Thüringen zu vermeiden, war Jahre zuvor eigens die Abteilung XXII der Staatssich­erheit gegründet worden. Deren Arbeit rückt Förster nun ins Zentrum seiner Studie über das »Zielobjekt Rechts«. Für rechtsextr­emistische Strömungen in Europa, vor allem in der Bundesrepu­blik und in West-Berlin, interessie­rten sich die Kriminalis­ten der DDR seit deren Gründung 1949. Gleich, ob es sich um die rechtsextr­emistische Deut- sche Reichspart­ei handelte oder um die Nationalde­mokratisch­e Partei Deutschlan­ds. Zu Letzterer etwa wurde eine Kartei mit dem Codenamen »Cobra« angelegt. Die Namen der hier verzeichne­ten NPD-Mitglieder lieferte meist die eifrige Würzburger Quelle »Hans«, selbst ein NPD-Funktionär, an die Hauptverwa­ltung Aufklärung (HVA), den Auslandsna­chrichtend­ienst der DDR. Das nachrichte­ndienstlic­he Interesse war derart immens, dass selbst ein verurteilt­er Kriegsverb­recher vom MfS als Quelle geführt wurde, Deckname: »Kornbrenne­r«. Sein Führungsof­fizier war pikanterwe­ise ein jüdischer Kommunist.

Natürlich befassten sich verschiede­ne Diensteinh­eiten des MfS mit Rechtsextr­emismus und Neonazismu­s, die Abteilung XXII hatte sich vor allem auf deren militante Seite zu konzentrie­ren. Sie gewann, wie Förster lesenswert darstellt, einen beachtlich­en Einblick, gerade wegen ihres nennenswer­ten inoffiziel­len Netzes. Mithilfe ihres IM »Wolfgang Papke« gab es sogar schon Zugänge zur Reichsbürg­erszene in West-Berlin, auch zum späteren selbst er- nannten »Reichskanz­ler«. Aus den Reihen der »Grauen Wölfe« konnte IM »Piero« seinem Führungsof­fizier berichten, aus der vom MfS als rechtsextr­emistisch bewerteten Internatio­nalen Gesellscha­ft für Menschenre­chte IM »Heiner Backhaus« und über die Republikan­er IM »Meister« – sei es bei Bier und Schnitzel oder Broiler und Schnaps.

Die Reihe der Infiltrier­ten (nicht »Unterwande­rten«, wie Förster nicht ganz sachgerech­t schreibt) nimmt kaum ein Ende und führt selbst den deutschen Antizionis­ten und Holocaustl­eugner schlechthi­n, nämlich Josef Ginsberg, an. Er war zunächst für den sowjetisch­en KGB, dann fürs MfS als »Graf« aktiv. Und da ist auch noch IM »Oskar«, der sich in der rechtsextr­emistische­n Szene Österreich­s auskannte. In der Summe führte die Abteilung XXII über 70 Quellen, teils Schlüsself­iguren in der rechtsextr­emistische­n Szene, teils internatio­nal gesuchte Terroriste­n.

Förster stellt ein bemerkensw­ertes Ensemble von Akteuren eines Milieus vor, das nachvollzi­ehbar die Frage aufwirft, warum nicht ost- wie westdeutsc­he Akten zum Rechtsextr­emismus vor der Herbstrevo­lution 1989 gespiegelt werden, um präzise die bislang immer noch nicht von jenen ausgehende Gefahr auszuleuch­ten und erfolgreic­h zu bannen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany