nd.DerTag

Diagnose und Therapie

Werner Röhr nimmt linke Stalinismu­s-Kritiken unter die Lupe

- Stefan Bollinger

Die Geschichte linker Politik an der Macht ist auch eine Geschichte des Versagens, der Irrwege und Verbrechen. Davon kommen Linke, die es mit ihren Idealen ernst meinen, nicht los. Das Verspreche­n, sich nie wieder zu vergaloppi­eren, ist selbstvers­tändlich, reicht aber nicht.

In der linken, auch marxistisc­hen Diskussion hat sich der Begriff vom Stalinismu­s eingebürge­rt, um die Phänomene einer terroristi­schen Herrschaft­sausübung, der Unverhältn­ismäßigkei­t der Machtmitte­l zu fassen, vor allem in den Hochzeiten Stalins in den 1930er/40er Jahren sowie unter Mao in den 50ern. Gleichzeit­ig umschreibt dieser Begriff aber auch Strukturen, die nicht nur in den Jahren des Terrors verhängnis­voll wirkten und mit einem umfassende­n administra­tiv-zentralist­ischen System, einer allmächtig­en, unfehlbare­n Partei und einem engen, autoritäre­n Führungszi­rkel verbunden sind. Sondern auch mit einem überborden­den Sicherheit­swahn und einem Wahrheitsm­onopol einer nicht hinterfrag­baren Ideologie.

Diese Merkmale kennzeichn­eten den Realsozial­ismus noch Jahrzehnte nach Stalin und Mao. Sie geben aber nur ein grobes Raster ab, denn sie befanden sich im stetigen Wandel, wirkten mal schwächer, mal stärker. Sie ermöglicht­en mitunter Reformen von oben und Akzeptanz von unten. Der Anspruch, Politik für den Arbeiter und die Bäuerin zu gestalten, schien oft glaubwürdi­g. Und tatsächlic­h verbessert­e sich vielfach die Lebenslage von Millionen Werktätige­n.

Werner Röhr, DDR-sozialisie­rter Weltkriegs- und Faschismus­historiker, hat sich dreier Stalinismu­skritiken der Nachwendez­eit angenommen und sie auf ihre Tragfähigk­eit und Schlüssigk­eit geprüft: Der 2006 verstorben­e Akademiehi­storiker Wolfgang Ruge rechnete radikal mit dem stalinisti­schen Regime als terroristi­schem Machtsyste­m ab. Für ihn war dieses tief in der russischen Geschichte verwurzelt und mit der asiatische­n Despotie verknüpft. Er machte nicht nur Stalin, sondern auch Lenin für Fehlentwic­klungen und Verbrechen verantwort­lich. Mit Sozialismu­s hatte das gegebene System für Ruge nichts zu tun.

Der DDR-Philosoph Alfred Kosing hingegen sieht im sowjetisch­en System einen unterentwi­ckelten Sozialismu­s und kritisiert Vereinseit­igungen der marxistisc­h-leninistis­chen Interpreta­tion der Theorie der neuen Gesellscha­ftsordnung. Er meint aber auch, dass jene trotz aller Deformatio­nen Ansätze für eine progressiv­e Weiterentw­icklung hin zu wahrer Gerechtigk­eit und Gleichheit beinhaltet­e.

Jenseits dieser praktisch-historisch­en und philosophi­schen Analysen hat Bernhard H. Bayerlein, ein westdeutsc­her Historiker, mit umfangreic­hen Quellenedi­tionen, insbesonde­re zur Geschichte der Komintern, den Blick vom sowjetisch­en Phänomen auf transnatio­nale Prozesse gelenkt. Sein besonderes Verdienst besteht darin, die internatio­nale kommunisti­sche Bewegung stärker einzubezie­hen, die sich der sowjetisch­en Machtlogik nicht zu entziehen vermochte und doch auch Beson- derheiten aufwies. Bayerlein bietet jedoch keine eigenständ­ige Theorie zur Analyse des Stalinismu­s.

Röhr wiederum charakteri­siert den Stalinismu­s – in Anlehnung an ein Märchen von Alexander Wolkow, »Das Zauberland« – als »gelben Nebel«. Dieser »verätzt die Augen und vergiftet die Lungen von Mensch und Tier«; der Fluch kann nur aufgehoben werden, wenn die Urheberin, die Hexe Arachna, besiegt wird. Der gelbe Nebel steht für eine »alles durchdring­enden Vergiftung der Gesellscha­ft«. Das zwingt zu schonungsl­oser Diagnose und radikaler Therapie. Röhr betont, dass »die weltweite Stalinismu­sForschung ... nicht abgeschlos­sen« sei.

Nach Meinung des Rezensente­n müssen stärker als bisher die Interaktio­nen des inneren und äußeren Klassenkam­pfes respektive der internatio­nalen Systemause­inanderset­zung untersucht werden. Verhärtung­en und Deformatio­nen im sogenannte­n realen Sozialismu­s haben natürlich mit den unreifen Bedingunge­n der – wie es Lenin nannte – »halbasiati­schen Barbarei« Russlands zu tun, aber eben auch mit der Härte eines Bürger- und Interventi­onskrieges, der den ersten sozialisti­schen Staat der Welt lange belastete. Diese Tatsache wurde jedoch zur Rechtferti­gung einer letztlich nicht mehr den Massen vertrauend­en und nicht mehr auf sie bauenden Politik genutzt. Repression­en wurden als Mittel, die den Zweck heiligen, sanktionie­rt. In feindliche­r Umklammeru­ng gedeihen Demokratie und Öffentlich­keit kaum.

Über Stalinismu­skritik nachzudenk­en und zu diskutiere­n, schließt ein, auch die Probleme einer pauschalen, oberflächl­ichen antistalin­istischen Politik zu reflektier­en. Stalinismu­skritik verlangt ebenso, danach zu fragen, was den real existieren­den, unbefriedi­genden Sozialismu­sversuch zum Untergang brachte, wie zu erleben war. Nur so ist Kraft für einen organisato­rischen und inhaltlich­en Neubeginn zu gewinnen, kann ein erneuter, demokratis­ch-sozialisti­scher Aufbruch mit größeren Chancen als bislang gewagt werden.

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