Glänzende Kugel
Der Fernsehturm wird 50 Jahre alt – man sieht sie ihm nicht an.
Zur Eröffnung galt der Berliner Fernsehturm als »Leuchtturm des Sozialismus«, heute gibt er die Sicht frei – auch bei Gewitter.
Man hätte erwarten können, dass zumindest die Berliner von dem ganzen Rummel, der in all den Jahren seit dem Baubeginn 1965 um den UKW- und Fernsehturm am Alexanderplatz gemacht wurde, irgendwann einmal die Nase voll haben. Aber nichts da! Die silbrig glänzende Kugel mit ihrer Aussichtsetage in 203,78 Metern Höhe erfreut sich seit der Eröffnung des Turms anlässlich des 20. Jahrestages der DDR ungebrochener Beliebtheit. Im Durchschnitt passieren derzeit 1,2 Millionen Gäste pro Jahr die Einlassschleusen, nur 320 dürfen zeitgleich hinauf. Ende August wurde der insgesamt 60,9-millionste Besucher begrüßt, erzählt Dietmar Jeserich, der Sprecher der TV-Turm Alexanderplatz Gastronomiegesellschaft, die das höchste Wahrzeichen der Hauptstadt vermarktet.
Gefeiert wurde die Eröffnung damals, vor 50 Jahren, übrigens gleich zweimal: Dass sich die »führenden Repräsentanten« ausgerechnet am 3. Oktober, dem späteren Tag der Deutschen Einheit, zum Empfang im Turmrestaurant einfanden, war gerade für jene natürlich weder vorherseh- noch vorstellbar. Denn nach damaliger Lesart galt der Fernsehturm als »Leuchtturm des Sozialismus«, wie das »nd« überschwänglich schrieb. Am 7. Oktober, dem eigentlichen »Republikgeburtstag«, eroberte dann die werktätige Bevölkerung das höchste Bauwerk der DDR. Es war für seine Zeit eine echte Sensation, ein Blickfang und eine technische Meisterleistung. Und die sich von oben bietende Aussicht, dieser unverstellbare 360-Grad-Nahund-Fernblick, war und ist einfach atemberaubend. Bezüglich des gut einsehbaren Westteils der Stadt, der in zeitgenössischen DDR-Stadtplänen ja nur als graue Fläche jenseits der Staatsgrenze abgebildet wurde, hatte die freie Sicht sogar etwas Subversives.
Wie dem auch sei, bis zu 70 Kilometer weit könne man bei idealen Witterungsbedingungen ins Umland schauen, sagt Sprecher Jeserich stolz. Dann kann man sogar die Umrisse der Freizeithalle von Tropical Islands im brandenburgischen Dahme-Spreewald ausmachen. Dietmar Jeserich ist Mitinitiator und heutiger Ehrenvorsitzender der Vereinigung Berliner Pressesprecher. Als Oberstleutnant a. D. war er unter anderem Pressestabsoffizier der Bundeswehr mit Einsatzerfahrung auf dem Balkan, in Afghanistan und Djibouti. Für die Pressearbeit auf dem Fernsehturm ist er seit 2009 zuständig, und natürlich achtet er darauf, dass sich mit der Stadt Berlin auch das Informationsbedürfnis ihrer Besucher weiterentwickelt. Im Aussichtsgeschoss, das man mit einem der zwei Schnellaufzüge in 40 Sekunden erreicht, weisen seit Kurzem 168 Informationstafeln auf wichtige Bauwerke der Hauptstadt hin. Mehr Erläuterungen bietet die neue Fernsehturm-App. In der Aufsichtsetage dürfen sich 120 Menschen aufhalten, 60 von ihnen finden dort an der hauseigenen »Bar 23« Platz. Dort kann man auch bei Schlechtwetterlagen Trost finden, denn bei Sturm schwankt der Turm – an der Spitze bis zu 60 Zentimeter, in Höhe der Kugel fünf bis zehn Zentimeter. »Aber selbst Gewitter sind kein Problem, sie sind eher ein tolles Schauspiel«, beschwichtigt der Sprecher.
»Wissen Sie, der Fernblick ist für mich eigentlich gar nicht so interessant«, sagt Jeserich. »Man sieht aus der Höhe doch vor allem auf Berlin, kann das Leben unten auf der Straße genau verfolgen. Und man sieht sehr gut, wie stark sich diese Stadt vor allem nach der Wende verändert hat, wie viele Gebäude wieder hergerichtet und vor allem neu gebaut wurden«, so Jeserich. Wie eng die Stadthälften nach 1990 wieder zusammengewachsen sind, lasse sich hier oben auch daran ermessen, dass man kaum noch sehe, wo einst die Mauer verlief. »Man kann die einzelnen Sehenswürdigkeiten gut erkennen, die Straße Unter den Linden mit dem Brandenburger Tor, den Reichstag und das Kanzleramt, das frühere Staatsratsgebäude, den Alexanderplatz oder auch die Karl-Marx-Allee. Man kann aber auch das viele Grün sehen, die zahlreichen Parks und Anlagen. Berlin ist eine grüne Stadt.«
Das Umfeld des Fernsehturms verändert sich nahezu permanent, der Schlossplatz (bis 1994 Marx-Engels-Platz) ist eine Dauerbaustelle. Das war auch in den beiden Jahrzehnten vor dem Ende der DDR so, immer wurde irgendwo gebuddelt – erinnert sei nur an die Neugestaltung des Alexanderplatzes, den Bau des Palastes der Republik, das neue Nikolaiviertel, die Rückkehr des Reiterstandbildes Friedrich des Großen, die Sanierung des Berliner Doms und das Marx-EngelsForum. Im Zuge des nach 1990 einsetzenden Baubooms sind viele DDRBauten verschwunden – geopfert dem in Senat und Bundesregierung vorherrschenden politischen Willen, Immobilienspekulation oder Umgestaltungsplänen. Das denkmalgeschützte »Kleeblatt« etwa, oder das DDR-Außenministerium. Aufgebracht hat viele Menschen das lange Sterben des Palastes der Republik. An seiner statt wurde das Stadtschloss der Hohenzollern wiederaufgebaut, ein zweifellos schöner Bau, in dessen rekonstruierte Barockmauern mit dem Humboldt Forum aber zumindest der Geist des Humanismus, der Wissenschaften und der Kultur einzieht. Derzeit kann man von oben Bauleuten dabei zusehen, wie sie Dach und Kuppel mit Kupfer eindecken.
Wer etwas mehr Zeit mitbringt, kann sich die herrliche Aussicht vom Fernsehturm kulinarisch veredeln lassen. Das Restaurant im zweiten Besuchergeschoss ist seit jeher der Sehnsuchtsort vieler Fernsehturmbesucher. Das sogenannte Dreh-Restaurant »Sphere« wird oft für Familienfeiern und Firmenevents gebucht. Im Normalbetrieb bieten 40 Tischreihen jeweils sechs Sitzplätze, die langsam im Uhrzeigersinn um die Turmachse rotieren. Das geschieht, wie Schichtleiterin Yvonne Hey berichtet, während der Öffnungszeiten zwischen 9 und 16 Uhr einmal innerhalb von 30 Minuten, zwischen 16 Uhr und Mitternacht dauert die Runde eine volle Stunde. Es ist, wie Sprecher Jeserich schwärmt, die »höchste Stadtrundfahrt Berlins«.
Pro Schicht sorgen jeweils zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das leibliche Wohl der Restaurantbesucher. Die Speisen werden in einer Küche am Fuße des Fernsehturms vorbereitet. Dafür, dass sie dann frisch zubereitet auf den Tisch kommen, sorgt das kleine Küchenteam des Restaurants. Die Gäste können à la carte Brandenburger und internationale Gerichte wählen. Man findet Saisonales und auch Veganes, besonders gefragt aber ist deftige Kost: von Currywurst über Berliner Bulette und geschmorte Rinderroulade bis Sauerbraten.
Seit Jahren hat der Fernsehturm quasi eine Doppelspitze. Denn die Geschäftsführung der Betreibergesellschaft teilen sich Christina Aue und Jean Paul Ferroud. Aue ist zugleich Exekutivdirektorin der 1989 zum 100. Geburtstags des Pariser Eiffelturms gegründeten »World Federation of Great Towers« (WFGT). Das Wahrzeichen der damaligen DDR-Hauptstadt war von Anfang an mit von der Partie. Heute sind offiziell 48 weltbekannte und sehr hohe Bauten in dem illustren Kreis vereint – und Berlins Fernsehturm muss sich da gar nicht verstecken. Mit seiner nach einem Antennenaufbau von 365 auf 368 Meter gewachsenen Höhe ist er das höchste Gebäude Deutschlands und das vierthöchste frei stehende Bauwerk in ganz Europa. Mit einer Gesamthöhe von 829,8 Metern überragt übrigens der »Burj Khalifa«-Wolkenkratzer in Dubai alle anderen WFGT-Mitglieder.
Das Bild von der Doppelspitze ist natürlich auch im übertragenen Sinne nicht ganz korrekt, denn eigentlich ist ja die TelekomTochter DFMG Deutsche Funkturm GmbH mit Sitz in Münster Hausherrin im Berliner Fernsehturm. »Wir sind, seit unsere Gesellschaft 2002 gegründet wurde, Eigentümerin des Berliner Fernsehturms«, erläutert deren Pressesprecher Benedikt Albers. Das gelte für alle großen Fernsehtürme und fast alle größeren Funktürme in Deutschland. »Aber der in Berlin ist der größte und schönste«, sagt er.
Leicht vergessen wird beim Blick auf den schlanken Betonturm mit seiner markanten Kugel und der weitaufragenden rot-weißen Spitze dessen ursprüngliche Bestimmung als Funkturm. Seine Spitze birgt an die 150 Antennen unterschiedlichster Größe und Bestimmung. »Damals wie heute war die primäre Funktion des Fernsehturms die Verbreitung von Rundfunksignalen für Radio und Fernsehen. Beides hat sich im Laufe der Zeit natürlich rasant weiterentwickelt. 1969 ging mit dem Fernsehturm das erste analoge Farbfernsehen in der DDR live«, erinnert Albers. Seither seien immer mehr Sender dazugekommen, nach der Jahrtausendwende das Digitalfernsehen und heute DVB-T2 HD. Den analogen UKW-Radioprogrammen folgte das digitale DAB-Radio. »Außerdem war und ist der Fernsehturm Ausgangspunkt für viele weitere Funkdienste wie Richtfunk, Mobilfunk, Behördenfunk, das Funknetz der BVG und so weiter«, sagt er. »Für den neuen Kommunikationsstandard 5G wird der Berliner Fernsehturm auch eine Rolle spielen.«
Die Sendetechnik im Turm hat sich mit der Zeit gewandelt und benötigt heute wesentlich weniger Raum in den über dem Gastronomiebereich gelegenen drei Etagen der Kugel. Sei die Sendetechnik für Rundfunk einst noch in vielen kühlschrankgroßen Anlagen untergebracht gewesen, brauche man heute dafür wenige Server, sagt Benedikt Albers. Die Miniaturisierung habe die Sendetechnik immer kleiner und leistungsstärker gemacht. Vor allem werde die Technik, die früher manuell bedient werden musste, heute aus der Ferne gewartet. Die eigenen Mitarbeiter seien nur noch selten vor Ort. »Wir warten aber in regelmäßigen Abständen die Bausubstanz und die Gebäudetechnik.«
Bisher hat es keine gravierenden Havarien gegeben. Die letzte Generalsanierung fand 1995/1996 statt. Bei derartigen Arbeiten gelten spezielle Auflagen, denn seit 1979 hat der Fernsehturm Denkmalstatus. Das hat auch seine Nachteile: Er ist nicht barrierefrei. Dietmar Jeserich bedauert, dass man deshalb Rollstuhlfahrern und auf Gehhilfen angewiesenen Menschen keinen Einlass gewähren könne. Als im Juni in der Nähe, am Alexa-Einkaufszentrum, eine Weltkriegsbombe entschärft wurde, zeigte sich warum: Aus Sicherheitsgründen wurden die Aufzüge gesperrt und der Turm über die Nottreppe mit ihren 986 Stufen evakuiert. Das wurde binnen 20 Minuten geschafft.
Doch nicht nur oben in der Kugel, auch unten im Foyer lohnt es sich, wegen des original erhaltenen DDR-Ambientes den Blick schweifen zu lassen. Auch wenn die unvermeidlichen Souvenirs im Shop dieses Bild stören.
»Man sieht aus der Höhe doch vor allem auf Berlin, kann das Leben unten auf der Straße genau verfolgen.« Dietmar Jeserich, Sprecher der TV-Turm GmbH