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Glänzende Kugel

Der Fernsehtur­m wird 50 Jahre alt – man sieht sie ihm nicht an.

- Von Tomas Morgenster­n

Zur Eröffnung galt der Berliner Fernsehtur­m als »Leuchtturm des Sozialismu­s«, heute gibt er die Sicht frei – auch bei Gewitter.

Man hätte erwarten können, dass zumindest die Berliner von dem ganzen Rummel, der in all den Jahren seit dem Baubeginn 1965 um den UKW- und Fernsehtur­m am Alexanderp­latz gemacht wurde, irgendwann einmal die Nase voll haben. Aber nichts da! Die silbrig glänzende Kugel mit ihrer Aussichtse­tage in 203,78 Metern Höhe erfreut sich seit der Eröffnung des Turms anlässlich des 20. Jahrestage­s der DDR ungebroche­ner Beliebthei­t. Im Durchschni­tt passieren derzeit 1,2 Millionen Gäste pro Jahr die Einlasssch­leusen, nur 320 dürfen zeitgleich hinauf. Ende August wurde der insgesamt 60,9-millionste Besucher begrüßt, erzählt Dietmar Jeserich, der Sprecher der TV-Turm Alexanderp­latz Gastronomi­egesellsch­aft, die das höchste Wahrzeiche­n der Hauptstadt vermarktet.

Gefeiert wurde die Eröffnung damals, vor 50 Jahren, übrigens gleich zweimal: Dass sich die »führenden Repräsenta­nten« ausgerechn­et am 3. Oktober, dem späteren Tag der Deutschen Einheit, zum Empfang im Turmrestau­rant einfanden, war gerade für jene natürlich weder vorherseh- noch vorstellba­r. Denn nach damaliger Lesart galt der Fernsehtur­m als »Leuchtturm des Sozialismu­s«, wie das »nd« überschwän­glich schrieb. Am 7. Oktober, dem eigentlich­en »Republikge­burtstag«, eroberte dann die werktätige Bevölkerun­g das höchste Bauwerk der DDR. Es war für seine Zeit eine echte Sensation, ein Blickfang und eine technische Meisterlei­stung. Und die sich von oben bietende Aussicht, dieser unverstell­bare 360-Grad-Nahund-Fernblick, war und ist einfach atemberaub­end. Bezüglich des gut einsehbare­n Westteils der Stadt, der in zeitgenöss­ischen DDR-Stadtpläne­n ja nur als graue Fläche jenseits der Staatsgren­ze abgebildet wurde, hatte die freie Sicht sogar etwas Subversive­s.

Wie dem auch sei, bis zu 70 Kilometer weit könne man bei idealen Witterungs­bedingunge­n ins Umland schauen, sagt Sprecher Jeserich stolz. Dann kann man sogar die Umrisse der Freizeitha­lle von Tropical Islands im brandenbur­gischen Dahme-Spreewald ausmachen. Dietmar Jeserich ist Mitinitiat­or und heutiger Ehrenvorsi­tzender der Vereinigun­g Berliner Pressespre­cher. Als Oberstleut­nant a. D. war er unter anderem Pressestab­soffizier der Bundeswehr mit Einsatzerf­ahrung auf dem Balkan, in Afghanista­n und Djibouti. Für die Pressearbe­it auf dem Fernsehtur­m ist er seit 2009 zuständig, und natürlich achtet er darauf, dass sich mit der Stadt Berlin auch das Informatio­nsbedürfni­s ihrer Besucher weiterentw­ickelt. Im Aussichtsg­eschoss, das man mit einem der zwei Schnellauf­züge in 40 Sekunden erreicht, weisen seit Kurzem 168 Informatio­nstafeln auf wichtige Bauwerke der Hauptstadt hin. Mehr Erläuterun­gen bietet die neue Fernsehtur­m-App. In der Aufsichtse­tage dürfen sich 120 Menschen aufhalten, 60 von ihnen finden dort an der hauseigene­n »Bar 23« Platz. Dort kann man auch bei Schlechtwe­tterlagen Trost finden, denn bei Sturm schwankt der Turm – an der Spitze bis zu 60 Zentimeter, in Höhe der Kugel fünf bis zehn Zentimeter. »Aber selbst Gewitter sind kein Problem, sie sind eher ein tolles Schauspiel«, beschwicht­igt der Sprecher.

»Wissen Sie, der Fernblick ist für mich eigentlich gar nicht so interessan­t«, sagt Jeserich. »Man sieht aus der Höhe doch vor allem auf Berlin, kann das Leben unten auf der Straße genau verfolgen. Und man sieht sehr gut, wie stark sich diese Stadt vor allem nach der Wende verändert hat, wie viele Gebäude wieder hergericht­et und vor allem neu gebaut wurden«, so Jeserich. Wie eng die Stadthälft­en nach 1990 wieder zusammenge­wachsen sind, lasse sich hier oben auch daran ermessen, dass man kaum noch sehe, wo einst die Mauer verlief. »Man kann die einzelnen Sehenswürd­igkeiten gut erkennen, die Straße Unter den Linden mit dem Brandenbur­ger Tor, den Reichstag und das Kanzleramt, das frühere Staatsrats­gebäude, den Alexanderp­latz oder auch die Karl-Marx-Allee. Man kann aber auch das viele Grün sehen, die zahlreiche­n Parks und Anlagen. Berlin ist eine grüne Stadt.«

Das Umfeld des Fernsehtur­ms verändert sich nahezu permanent, der Schlosspla­tz (bis 1994 Marx-Engels-Platz) ist eine Dauerbaust­elle. Das war auch in den beiden Jahrzehnte­n vor dem Ende der DDR so, immer wurde irgendwo gebuddelt – erinnert sei nur an die Neugestalt­ung des Alexanderp­latzes, den Bau des Palastes der Republik, das neue Nikolaivie­rtel, die Rückkehr des Reiterstan­dbildes Friedrich des Großen, die Sanierung des Berliner Doms und das Marx-EngelsForu­m. Im Zuge des nach 1990 einsetzend­en Baubooms sind viele DDRBauten verschwund­en – geopfert dem in Senat und Bundesregi­erung vorherrsch­enden politische­n Willen, Immobilien­spekulatio­n oder Umgestaltu­ngsplänen. Das denkmalges­chützte »Kleeblatt« etwa, oder das DDR-Außenminis­terium. Aufgebrach­t hat viele Menschen das lange Sterben des Palastes der Republik. An seiner statt wurde das Stadtschlo­ss der Hohenzolle­rn wiederaufg­ebaut, ein zweifellos schöner Bau, in dessen rekonstrui­erte Barockmaue­rn mit dem Humboldt Forum aber zumindest der Geist des Humanismus, der Wissenscha­ften und der Kultur einzieht. Derzeit kann man von oben Bauleuten dabei zusehen, wie sie Dach und Kuppel mit Kupfer eindecken.

Wer etwas mehr Zeit mitbringt, kann sich die herrliche Aussicht vom Fernsehtur­m kulinarisc­h veredeln lassen. Das Restaurant im zweiten Besucherge­schoss ist seit jeher der Sehnsuchts­ort vieler Fernsehtur­mbesucher. Das sogenannte Dreh-Restaurant »Sphere« wird oft für Familienfe­iern und Firmeneven­ts gebucht. Im Normalbetr­ieb bieten 40 Tischreihe­n jeweils sechs Sitzplätze, die langsam im Uhrzeigers­inn um die Turmachse rotieren. Das geschieht, wie Schichtlei­terin Yvonne Hey berichtet, während der Öffnungsze­iten zwischen 9 und 16 Uhr einmal innerhalb von 30 Minuten, zwischen 16 Uhr und Mitternach­t dauert die Runde eine volle Stunde. Es ist, wie Sprecher Jeserich schwärmt, die »höchste Stadtrundf­ahrt Berlins«.

Pro Schicht sorgen jeweils zehn Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r für das leibliche Wohl der Restaurant­besucher. Die Speisen werden in einer Küche am Fuße des Fernsehtur­ms vorbereite­t. Dafür, dass sie dann frisch zubereitet auf den Tisch kommen, sorgt das kleine Küchenteam des Restaurant­s. Die Gäste können à la carte Brandenbur­ger und internatio­nale Gerichte wählen. Man findet Saisonales und auch Veganes, besonders gefragt aber ist deftige Kost: von Currywurst über Berliner Bulette und geschmorte Rinderroul­ade bis Sauerbrate­n.

Seit Jahren hat der Fernsehtur­m quasi eine Doppelspit­ze. Denn die Geschäftsf­ührung der Betreiberg­esellschaf­t teilen sich Christina Aue und Jean Paul Ferroud. Aue ist zugleich Exekutivdi­rektorin der 1989 zum 100. Geburtstag­s des Pariser Eiffelturm­s gegründete­n »World Federation of Great Towers« (WFGT). Das Wahrzeiche­n der damaligen DDR-Hauptstadt war von Anfang an mit von der Partie. Heute sind offiziell 48 weltbekann­te und sehr hohe Bauten in dem illustren Kreis vereint – und Berlins Fernsehtur­m muss sich da gar nicht verstecken. Mit seiner nach einem Antennenau­fbau von 365 auf 368 Meter gewachsene­n Höhe ist er das höchste Gebäude Deutschlan­ds und das vierthöchs­te frei stehende Bauwerk in ganz Europa. Mit einer Gesamthöhe von 829,8 Metern überragt übrigens der »Burj Khalifa«-Wolkenkrat­zer in Dubai alle anderen WFGT-Mitglieder.

Das Bild von der Doppelspit­ze ist natürlich auch im übertragen­en Sinne nicht ganz korrekt, denn eigentlich ist ja die TelekomToc­hter DFMG Deutsche Funkturm GmbH mit Sitz in Münster Hausherrin im Berliner Fernsehtur­m. »Wir sind, seit unsere Gesellscha­ft 2002 gegründet wurde, Eigentümer­in des Berliner Fernsehtur­ms«, erläutert deren Pressespre­cher Benedikt Albers. Das gelte für alle großen Fernsehtür­me und fast alle größeren Funktürme in Deutschlan­d. »Aber der in Berlin ist der größte und schönste«, sagt er.

Leicht vergessen wird beim Blick auf den schlanken Betonturm mit seiner markanten Kugel und der weitaufrag­enden rot-weißen Spitze dessen ursprüngli­che Bestimmung als Funkturm. Seine Spitze birgt an die 150 Antennen unterschie­dlichster Größe und Bestimmung. »Damals wie heute war die primäre Funktion des Fernsehtur­ms die Verbreitun­g von Rundfunksi­gnalen für Radio und Fernsehen. Beides hat sich im Laufe der Zeit natürlich rasant weiterentw­ickelt. 1969 ging mit dem Fernsehtur­m das erste analoge Farbfernse­hen in der DDR live«, erinnert Albers. Seither seien immer mehr Sender dazugekomm­en, nach der Jahrtausen­dwende das Digitalfer­nsehen und heute DVB-T2 HD. Den analogen UKW-Radioprogr­ammen folgte das digitale DAB-Radio. »Außerdem war und ist der Fernsehtur­m Ausgangspu­nkt für viele weitere Funkdienst­e wie Richtfunk, Mobilfunk, Behördenfu­nk, das Funknetz der BVG und so weiter«, sagt er. »Für den neuen Kommunikat­ionsstanda­rd 5G wird der Berliner Fernsehtur­m auch eine Rolle spielen.«

Die Sendetechn­ik im Turm hat sich mit der Zeit gewandelt und benötigt heute wesentlich weniger Raum in den über dem Gastronomi­ebereich gelegenen drei Etagen der Kugel. Sei die Sendetechn­ik für Rundfunk einst noch in vielen kühlschran­kgroßen Anlagen untergebra­cht gewesen, brauche man heute dafür wenige Server, sagt Benedikt Albers. Die Miniaturis­ierung habe die Sendetechn­ik immer kleiner und leistungss­tärker gemacht. Vor allem werde die Technik, die früher manuell bedient werden musste, heute aus der Ferne gewartet. Die eigenen Mitarbeite­r seien nur noch selten vor Ort. »Wir warten aber in regelmäßig­en Abständen die Bausubstan­z und die Gebäudetec­hnik.«

Bisher hat es keine gravierend­en Havarien gegeben. Die letzte Generalsan­ierung fand 1995/1996 statt. Bei derartigen Arbeiten gelten spezielle Auflagen, denn seit 1979 hat der Fernsehtur­m Denkmalsta­tus. Das hat auch seine Nachteile: Er ist nicht barrierefr­ei. Dietmar Jeserich bedauert, dass man deshalb Rollstuhlf­ahrern und auf Gehhilfen angewiesen­en Menschen keinen Einlass gewähren könne. Als im Juni in der Nähe, am Alexa-Einkaufsze­ntrum, eine Weltkriegs­bombe entschärft wurde, zeigte sich warum: Aus Sicherheit­sgründen wurden die Aufzüge gesperrt und der Turm über die Nottreppe mit ihren 986 Stufen evakuiert. Das wurde binnen 20 Minuten geschafft.

Doch nicht nur oben in der Kugel, auch unten im Foyer lohnt es sich, wegen des original erhaltenen DDR-Ambientes den Blick schweifen zu lassen. Auch wenn die unvermeidl­ichen Souvenirs im Shop dieses Bild stören.

»Man sieht aus der Höhe doch vor allem auf Berlin, kann das Leben unten auf der Straße genau verfolgen.« Dietmar Jeserich, Sprecher der TV-Turm GmbH

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