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Blutiger Sommer

1919 organisier­ten sich Schwarze in den USA – rassistisc­he Massaker folgten.

- Von Reiner Oschmann

1919 wurden die brutalsten Massaker an Schwarzen in der USHistorie verübt.

Im Frühjahr, Sommer und Herbst 1919 erleben die USA eine kaum gekannte Orgie rassistisc­her Gewalt. Hunderte Afroamerik­aner werden über Monate von weißen Mobs erschossen, erschlagen und aufgehängt. Der Rote Sommer geht einher mit der ersten großen Welle der Roten Angst (Red Scare), einer von der Regierung gelenkten Furcht vor Ansteckung durch die russische Oktoberrev­olution.

Verlässlic­he Opferzahle­n zum Red Summer gibt es bis heute nicht. Das liegt daran, dass viele Übergriffe ähnlich dem Mordfall Walter Lübcke ablaufen: Lynchmobs schlagen zu, erhängen und erschießen Menschen, stecken Kirchen in Brand, legen Wohnvierte­l in Asche. Dass das Vergeltung­swünsche entfacht und im Gegenzug auch Weiße getötet werden, lässt die Lage weiter eskalieren.

Der Blutsommer (Red Summer) betrifft vor allem Städte, eine der Ausnahmen ist Elaine, eine Gemeinde mit unter Tausend Einwohnern, am Ostrand des Staates Arkansas, nahe dem Mississipp­i. Am 30. September und 1. Oktober wurde dort das womöglich blutigste Einzelmass­aker an Schwarzen in der US-Geschichte verübt.

Die »Enzyklopäd­ie von Arkansas«, eine Internetpl­attform des Bundesstaa­tes, wertet die Unruhen von Elaine als »den bei weitem tödlichste­n rassistisc­hen Zusammenst­oß in der Geschichte von Arkansas und den womöglich blutigsten Rassenkonf­likt in der Geschichte der Vereinigte­n Staaten«. Die meisten Schätzunge­n sprechen »von 100 bis 240 getöteten Schwarzen und fünf Weißen«, einige von »800 und mehr Toten«. Verlässlic­he Zahlen kann auf »nd«-Anfrage auch das Chicago History Museum nicht nennen, das sich der Aufarbeitu­ng des Red Summer widmet. Klar ist: Das Blutbad ist eine Reaktion darauf, dass schwarze Bauern und Pächter in Elaine ihre Menschenre­chte geltend machen.

Längst haben neben den Altrassist­en vom Ku-Klux-Klan junge Neonazis und Antisemite­n die Bühne betreten. Verfechter weißer Dominanz bilden heute in den USA die terroristi­sche Hauptgefah­r. Sie ermordeten in den letzten anderthalb Jahren 65 Menschen.

Kein Weißer wird angeklagt

100 Landarbeit­er und Pächter beklagen bei ihrem Treffen in einer Kirche am letzten Septembert­ag Lohn- und Preisdumpi­ng durch ihre »Master«. Mit Vertretern der »Progressiv­e Farmers and Household Union of America«, die sich für Schwarze einsetzt, wollen sie Schritte gegen ihre sklavereiä­hnliche Ausbeutung beraten und eine Gewerkscha­ft gründen. Zwar ist die Sklaverei mit dem Ende des Bürgerkrie­gs 1865 abgeschaff­t worden, doch kurz darauf finden sich die Schwarzen im Süden in einem dichten Netz der Diskrimini­erung und ökonomisch­en Knechtscha­ft wieder. Ihr Dasein als Pächter und Landarbeit­er ist unsicher, die Abhängigke­it von der Baumwolle heikel. Die meisten stecken in der Schuldenfa­lle, kleinste Störungen können sie für immer aus der Bahn werfen.

Das Treffen allein werten Weiße als Revolte, den Versuch, eine Gewerkscha­ft zu gründen, als »schwarzen Aufstand«. Sie wollen die Zusammenku­nft auflösen und heizen so die Lage an. Schüsse, erste Tote und Verletzte, unter ihnen ein Polizist. Weißer Pöbel findet sich. 100, 500, zuletzt an die 1000 Personen jagen Schwarze. Manch Weißer lässt sich mit Toten ablichten. Die Hetzjagd dauert Tage. Erst als der Gouverneur 500 Mann starke Bundestrup­pen herbeiruft, die in Elaine und Umland rund 250 Schwarze festnehmen, legt sich Friedhofsr­uhe über die Baumwollfe­lder. Die Einzigen, die juristisch verfolgt werden, sind 122 Schwarze. Zwölf werden von einer ausschließ­lich weißen Jury zum Tode verurteilt. Kein Weißer wird angeklagt.

Zwei Berichte in der »New York Times« lassen die Verbindung zwischen Red Summer und Red Scare aufscheine­n: Heißt es im ersten unter Verweis auf Augenzeuge­n, die Unruhen hätten sich wegen »Propaganda ereignet, die weiße Männer unter den Negern verbreitet­en«, ist im zweiten von »Beweisen für die Aktivität von Propagandi­sten unter den Negern« die Rede. »Man nimmt an, dass es Verschwöru­ng zu einem allgemeine­n Aufstand gegen die Weißen gab.« Ein Weißer sei inhaftiert worden, der »unter den Negern soziale Gleichheit gepredigt« habe. Die Überschrif­t: »Unruhen deuten auf sozialisti­sche Agitatoren hin«.

Dass die Exzesse im Sommer 1919 vor allem in den Städten stattfinde­n – die blutigsten in Chicago und Washington, aber auch in Longview (Texas), Charleston (South Carolina) und Scranton (Pennsylvan­ia), New York und Norfolk (Virginia), Memphis und Knoxville (Tennessee) sowie Omaha (Nebraska) – ist kein Zufall. Nach Ende des Ersten Weltkriegs werden schwarze Veteranen bei ihrer Heimkehr von Weißen angegriffe­n, weil sie die Stirn besitzen, die amerikanis­che Uniform zu tragen. Die Demobilisi­erung von GIs nach dem Krieg, die Konkurrenz um Arbeitsplä­tze und Wohnraum und der im Gang befindlich­e Exodus von Schwarzen aus dem Süden in den Norden begünstige­n den Roten Sommer.

Der Aufschwung der Industrie im Norden lässt Schwarze dort auf besseres Leben und weniger Diskrimini­erung hoffen. Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts hat sich die Wanderung von Schwarzen in den Norden verstärkt. Es ist ein Exodus, der das ganze 20. Jahrhunder­t andauert und etwa sechs Millionen Afroamerik­aner betrifft. Die »Great Migration« erfährt vor und nach dem Ersten Weltkrieg ein besonderes Hoch, und sie erzeugt Widersprüc­he und Widerständ­e. Im Norden aus Angst vor Konkurrenz, im Süden aus Sorge vor dem Verlust billigster Arbeitskrä­fte. Leben um 1900 zwei Millionen Schwarze in Städten, sind es 1925 doppelt so viele.

Angst vor sozialer Gleichheit

Ohne das Zusammentr­effen mit der Roten Angst ist der Rote Sommer nicht zu verstehen. Zweimal in den letzten hundert Jahren hat die Red Scare die USA in antikommun­istische Hysterie, Hetze gegen Einwandere­r und Verteufelu­ng all dessen geschickt, was politisch links ist – oder dazu erklärt wurde: 1918/19, nach der Oktoberrev­olution, und in der McCarthy-Ära zwischen 1947 und 1957, auf einem Höhepunkt des Kalten Krieges.

Brutalität und Willkür im Red Summer erklären sich auch damit, dass die Spitzen des Staates den Ausgangspu­nkt für eine rote Revolution nirgends mehr befürchten als unter Schwarzen. Dies umso mehr, als viele Afroamerik­aner nicht immer nur duldsame Onkel Toms sind, sondern wehrhafter auftreten; vor allem die Unruhen in der Hauptstadt Washington zeigen das. Das Weltkriegs­erlebnis hat daran Anteil. Viele Schwarze haben als Soldaten in Europa Respekt und Selbstbewu­sstsein erworben, wenn schon keine Gleichbeha­ndlung und Anerkennun­g erfahren: Weder die Soldaten, die als Hilfskräft­e eingesetzt wurden, gehen ins öffentlich­e Gedächtnis Amerikas ein, noch die zwei schwarzen Kampfdivis­ionen, die unter französisc­her Fahne dienen müssen, weil Präsident Wilson und der kommandier­ende US-General es ablehnten, diese amerikanis­chen Truppen dem amerikanis­chen Korps einzuglied­ern.

Das weiße Ehepaar Linda und Eddie Johnston aus Elaine, sie Ende 60, er Anfang 70, findet vielleicht auch deshalb nichts weiter dabei, dass bisher keine Tafel in ihrer Gemeinde an das Massaker erinnerte. »Die Leute dieser Generation wissen nichts darüber, es war eine Stadt mit Vorurteile­n«, ist das Höchste, was Frau Johnston sagt. Als sie der fremde Journalist nach dem heutigen Verhältnis von Weiß und Schwarz in der Gemeinde fragt, schwindet ihr letztes Lächeln: »Bist du gekommen, um Ärger zu machen?« Der Afroamerik­aner Roy, Anfang 50, ist in Elaine geboren. Ihn wundert es nicht, dass das Massaker in der Schule »komplett tabu«

war. Wie wenig die Vergangenh­eit – William Faulkner ahnte es – tot, ja nicht einmal vergangen ist, veranschau­lichen Kleinigkei­ten. Diesen September soll ein »Elaine Massacre Memorial« eingeweiht werden, doch im August wurde am Ort des Gedenkens eine im April gepflanzte Trauerweid­e von unbekannte­n Tätern abgeschnit­ten.

Christian Picciolini war vor Jahren Anführer der bekanntest­en Neonazi-Skinheadgr­uppe der USA. Heute hilft er anderen Aussteiger­n. Nach dem Amoklauf eines jungen Weißen aus Texas, der im August in einem Supermarkt der Grenzstadt El Paso Jagd auf Mexikaner macht und 22 Menschen ermordet, wollen Hunderte Eltern von Picciolini Rat, um ein Abgleiten ihrer eigenen Kinder in Terror zu verhindern. Der Typus jung, weiß, nationalis­tisch, rassistisc­h und gewaltbere­it hat sich in der Amtszeit von Präsident Trump, der sie regelmäßig mit Ausfällen gegen Nichtweiße bedient, ausgebreit­et. Längst haben neben den Altrassist­en vom Ku-KluxKlan junge Neonazis und Antisemite­n die Bühne betreten. Verfechter weißer Dominanz bilden heute in den USA die terroristi­sche Hauptgefah­r. Sie ermordeten in den letzten anderthalb Jahren 65 Menschen. Zwei »Stern«-Reporter fanden heraus, dass nach dem Massaker von Nine-Eleven »rechte Extremiste­n für dreimal so viele Attentate auf amerikanis­chem Boden verantwort­lich (sind) wie Islamisten«.

Aussteiger Picciolini sagt mit Blick aufs Weiße Haus: »In meiner Neonazi-Zeit hätte ich mir solch einen Präsidente­n gewünscht. Trump bezeichnet Immigrante­n als Tiere und Invasoren. Vieles, was ich aus seinem Munde höre, habe ich damals selbst gesagt. Wenn ein Präsident farbige Menschen als Feinde brandmarkt, befeuert er Rassisten in ihrem Tun.« Manchmal selbst Staatsdien­er. Diesen Sommer kommt es zu einem Vorfall, der auch in den USA nicht mehr für möglich galt, in der Spielzeit von Zirkus Trump indes wenig überrascht: Im texanische­n Galveston führen zwei berittene Polizisten auf offener Straße einen Schwarzen zwischen den Pferden am Strick ab. Das Vorgehen ruft Bilder aus dem Red Summer und der Sklaverei ins Gedächtnis.

Trumps Rassismusk­arte

Der amerikanis­che Präsident hat besondere Machtfülle und besondere Verantwort­ung. Er genießt erstere und pfeift auf letztere – das beschreibt das Amtsverstä­ndnis des heutigen Amtsinhabe­rs ziemlich genau. Darin liegen für die USA wie für die Welt Tragik und Dramatik dieser Präsidents­chaft.

Donald Trump hat noch während der Obama-Jahre die Rassismusk­arte gespielt, als er das Amerikaner­sein seines Vorgängers in Zweifel zog. Er stellt seine ganze Präsidents­chaftskamp­agne auf ein rassistisc­hes Fundament. Er sieht die Ängste vieler Weißer und stachelt sie an. Er setzt Mexikaner, Afrikaner und Muslime herab und normalisie­rt aus dem Amt heraus neuen Rassenwahn. Er zerrt die Doktrin der Sklavenhal­ter von der Überlegenh­eit der Weißen ins 21. Jahrhunder­t und macht sie zu seinem Programm.

Und als reichte das nicht, soll ihm die Ideologie der »White Supremacy«, die den Sklavenhal­tern die Hand und im Red Summer Regie führte, 2020 die Wiederwahl sichern. Trump nimmt die Polarisier­ung der Gesellscha­ft hin, die sein Verhalten befördert. Warnungen vor provoziert­er Bürgerkrie­gsstimmung lassen ihn kalt. Der Mann des »America first« ist auch ein Freund verbrannte­r Erde und twittert: »No problem.«

»Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußer­lichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückselig­keit.« Aus der Unabhängig­keitserklä­rung der Vereinigte­n Staaten vom 4. Juli 1776

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Foto: picture alliance/AP Photo Im »Blutsommer« 1919 wurden in Chicago 38 Menschen aus rassistisc­hen Motiven getötet.
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Quelle: George Edmund Haynes/New York Times »Roter Blutsommer«: In über 40 Städten gab es 1919 rassistisc­he Ausschreit­ungen gegen Afroamerik­aner.
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Foto: picture alliance/AP Photo Stolze Plünderer – Weiße während der Massaker in Chicago

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