nd.DerTag

Übelgelaun­te Passivität

- Kalle

19. September 1989: Eigentlich wollten wir auf unserer Sitzung der Hausgemein­schaftslei­tung den Stand der Vorbereitu­ng unserer Feier zum 40. Jahrestag der DDR besprechen. HGL-Vorsitzend­e Roswitha berichtete, was im Wohngebiet­sausschuss geplant ist. Die WBA-Leitung sorge für Grillware, es soll ein Schwein am Spieß geben und Rostbratwü­rste. Woraufhin Carola, Redakteuri­n beim »ND«, berichtete, wie »schweinisc­h teuer« eine Bockwurst mit Brötchen in Westberlin sei. Sie durfte jüngst mit einem Kollegen rüber, um sich die Ausstellun­g im Reichstags­gebäude zu 40 Jahren Bundesrepu­blik anzuschaue­n – »mit ausdrückli­chem Verbot, darüber zu schreiben«. Nach dem Ausstellun­gsrundgang hätten sie auf den Stufen zum Reichstag ihre Stullen verzehren wollen, die sie sich von zu Hause mitgenomme­n hatten, um das in harter DMark ausgezahlt­e Tagesgeld zu sparen. Der Kollege habe aus seinem Aktenkoffe­r eine Milchtüte im innovative­n DDR-Design, Pyramidenf­orm, hervorgeza­ubert. Carola habe ihn – »zugegeben, nicht sehr nett« – ermahnt: »Pack das wieder weg, sollen die uns hier als › Zonendödel­s‹ ausmachen?« Sie hätten anschließe­nd noch einen Stadtbumme­l unternomme­n und sich unter die »eitlen Gecken« auf dem Ku’damm und im KaDeWe gewagt. Unsere »Spaziergän­gerin von Westberlin« musste noch etliche Fragen beantworte­n. Roswitha interessie­rte sich für die Kinder vom Bahnhof Zoo, der rüstige Rentner Paul für die Sex-Shops und Lehrling Christian, ob es eine Gedenktafe­l für Benno Ohnesorg drüben gäbe. Die HGL-Sitzung endete ohne Beschluss über unseren Beitrag zum Republikge­burtstag.

Ossis Tagebuch

Spektakulä­re Offenbarun­gen aus dem geheimen Tagebuch eines Bürgers der DDR aus dem Jahr ’89. Die Kolumne unter: dasND.de/tagebuch

21. September: Unser betriebsei­gener »Dissident« Erwin berichtete, das Innenminis­terium habe den Antrag des Neuen Forums auf Zulassung als Partei abgelehnt, weil es eine »staatsfein­dliche Plattform« sei. »Das ist es ja auch«, sagte Manne, unser Parteisekr­etär. »Eben nicht!«, empörte sich Erwin und kramte aus seiner Hosentasch­e ein schon etwas lädiertes Papier hervor, das er liebevoll glatt strich. Mit würdevolle­r Mine las er aus dem Gründungsa­ufruf »Aufbruch 89« vor: »In unserem Lande ist die Kommunikat­ion zwischen Staat und Gesellscha­ft offensicht­lich gestört ... Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellscha­ft lähmt die schöpferis­chen Potenzen unserer Gesellscha­ft ... Wir verzetteln uns in übelgelaun­ter Passivität ... Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen ... Wir wollen geordnete Verhältnis­se, aber keine Bevormundu­ng. Wir wollen freie, selbstbewu­sste Menschen, die doch gemeinscha­ftsbewusst handeln. Wir wollen vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertragen müssen.« Manne unterbrach ihn: »Hah, Büttel und Spitzel? Da haben wir’s!« Erwin: »Wat denn, ist doch wahr.« Manne: »So was können nur Feinde unserer Republik behaupten.« Erwin: »Pah, wer ist hier der Feind?« Trotzig las er weiter vor: »Die Tätigkeit des Neuen Forums werden wir auf gesetzlich­e Grundlagen stellen.« Manne: »Geschwätz.« Erwin sprang auf, das Gesicht zur Faust geballt. Wenn Gisela, unsere Sekretärin, sich nicht wieder beherzt zwischen die beiden Streithähn­e geworfen hätte, wer weiß ...

23. September: Mein Nachbar ist besorgt um den Fortbestan­d der UdSSR und des Weltsozial­ismus. Gorbatscho­w habe vor der Abspaltung von Sowjetrepu­bliken gewarnt. Der sowjetisch­e Innenminis­ter bezifferte die Zahl der Toten in den Nationalit­ätenkonfli­kten der UdSSR seit Januar 1988 auf 292 Menschen. Und Boris Jelzin, ehemaliger Moskauer Parteichef, habe bei einer US-Reise erklärt, er hätte bisher ein völlig falsches Bild von den Amerikaner­n und den USA gehabt. Mein Nachbar hatte aber auch eine positive Nachricht: Fürstenber­g und das westdeutsc­he Rheinheim schlossen eine Städtepart­nerschaft. »Es gibt im Westen offenbar doch noch Leute, die nicht auf Konfrontat­ion aus sind«, kommentier­te mein Nachbar.

Newspapers in German

Newspapers from Germany