Die Erbsünde
Vor 400 Jahren wurden in Britisch-Nordamerika die ersten Afrikaner als Sklaven verkauft – Entschädigungen stehen bis heute aus.
Der amerikanische Gründungsmythos – Siedlungsbeginn durch Europäer – beginnt mit einer Lüge. Dennoch wird er nächstes Jahr seinen 400. Jahrestag feiern: die Landung der »Mayflower« mit 102 englischen Siedlern am
21. November 1620 an der Küste von Massachusetts. Abgesehen davon, dass bereits Mitte des 16. Jahrhunderts Kolonisten der Krone in Neufundland zu siedeln begannen, steht vor der Ankunft der Pilgerväter jedoch die Landung des ersten Sklavenschiffs. Am 20. August 1619 in Jamestown, Virginia, löscht ein niederländisches Kaperschiff seine Ladung und übergibt rund 20 Frauen und Männer aus dem heutigen Angola. Sie werden für den Kauf von Schiffsproviant in Zahlung gegeben, wie Tabakpflanzer John Rolfe notiert. Rolfe war bis zu ihrem Tod 1617 Ehemann der legendären Pocahontas, Tochter eines Indianerhäuptlings. Sie hatte zwischen den Algonkin und englischen Siedlern vermittelt. Rolfes Notiz ist das älteste Dokument für den Verkauf von Afrikanern in Nordamerika. Der
20. August 1619 gilt daher als Beginn der Sklaverei in den USA, damals Kolonie König Jakobs I., Maria Stuarts Sohn.
Die benachbarten Jahrestage verweisen auf zwei Wurzeln von Amerikas Aufstiegsgeschichte. Gefühlig erinnert wird in den USA nur eine davon. Jedes Schulkind hat von der »Mayflower« gehört, kaum eines von der »White Lion«, einem Schiff, das Afrikaner verschleppte. Die USA feiern die Pilgerväter als Botschafter der Freiheit, während Amerikas Sklavengeschichte, ein unerhörter Profitquell, nur verdruckst erwähnt wird. »Es ist verführerisch, sich vorzustellen, dass die Geschichte Amerikas mit wenigen Ausnahmen eine Geschichte von Freiheit und Unabhängigkeit ist«, schrieb der Publizist Ed Simon in der »Washington Post«. »Wenn wir aber nur feiern, wofür die ›Mayflower‹, und ignorieren, wofür die ›White Lion‹ steht, sprechen wir unsere Geschichte auf Kosten der Wahrheit frei.«
Nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg 1865 müssen die Südstaaten die Abschaffung der Sklaverei akzeptieren. Doch die Freiheit der Schwarzen bleibt papiern. Weiße Vorherrschaft regiert. Diese White Supremacy, die Donald Trump, auch als Reaktion auf die Obama-Präsidentschaft, heute wieder vorantreiben will, bedeutet viele Jahre Apartheid.
Amerikanische Aktivisten fordern seit Langem Entschädigungen an Schwarze für die Entmenschlichung ihrer Vorfahren. Ta-Nehisi Coates, einer der bekanntesten zeitgenössischen schwarzen Intellektuellen, holt vor fünf Jahren im Magazin »The Atlantic« als Erster das Thema aufs Tapet. In »The Case for Reparations« zeigt er Faktoren auf, die Schwarze bis heute strukturell benachteiligen – Rassismus, Armut, Willkür, Polizeigewalt.
Im anlaufenden Präsidentschaftswahlkampf 2020 findet die Forderung Beachtung, obwohl die Bewerber der Demokraten, die Sympathie für die Idee äußern, uneins sind, wie Reparationen aussehen könnten. Ein Konzept besitzt keiner. Elizabeth Warren, Kamala Harris und Julian Castro wollen eine Debatte. Harris spricht vom Ausgleich ungleicher Startchancen und Investitionen in schwarze Gemeinden. Individuelle Barzahlungen lehnt sie ebenso ab wie Bernie Sanders. Außenseiterkandidatin Marianne Williamson befürwortet Entschädigungen von »200 bis 500 Milliarden Dollar«. Beto O’Rourke verlangt die Anerkennung des Unrechts und den Beginn von Wiedergutma1619 wurden die ersten Sklaven chung. So vage vieles klingt, zeugt es doch von veränderter Stimmung und dem Wissen der Demokraten, dass sie kaum Chancen haben, wenn sie die – nach jüngstem Zensus 2010 – etwa 39 Millionen Afroamerikaner und treueste Wählergruppe nicht für sich gewinnen können. Barack Obama blieb in der Reparationsfrage stets skeptisch. Er argumentierte, Sklaverei habe Schaden und Wunden angerichtet – durch Geld nicht begleichbar. Vernünftiger sei es, Folgen wie Armut, schlechtere Gesundheitsversorgung, mehr Polizeigewalt und höhere Gefängnisstrafen direkt anzugehen.
Die Reparationsforderung ist nicht neu. Der schwarze Kongressabgeordnete John Conyers (90), der 2017 aus dem Parlament schied, brachte seit 1989 ein Vierteljahrhundert lang zu Beginn jeder Legislaturperiode einen gleichlautenden Antrag ein: Der Kongress möge die langfristigen Folgen der Sklaverei in den Vereinigten Staaten umfassend untersuchen lassen und geeignete Sühneschritte erörtern. Fortgeführt wird die Initiative nun von.
Reparationen sind, wenig bekannt, in ganz jungen Jahren der USA in Einzelfällen oft gewährt worden. Manch Schwarzer kam frei, manche heirateten Weiße, andere flohen mit weißen Schuldknechten, die nicht viel weniger litten. Quäker in New York, Baltimore und den New-England-Staaten knüpften die Mitgliedschaft in ihrem christlichen Verband daran, »dass ein jeder seine ehemaligen Sklaven entschädige«. Das Oberste Gericht der USA indes lehnt Reparationsklagen stets ab, die erste vor über hundert Jahren, die letzte 1995. Mitch McConnell, aktuell Chef der Republikaner im Senat, bewegt sich auf gleicher Linie. Sklaverei sei vor 150 Jahren beseitigt worden, und die USA hätten mit Bürgerkrieg, Bürgerrechtsgesetzen und Wahl des ersten Schwarzen ins Weiße Haus für ihre Erbsünde genügend gebüßt.
Gleichwohl gab es im Juni im Abgeordnetenhaus erstmals eine Anhörung. Ta-Nehisi Coates: »Ich gehe davon aus, dass dieser Kampf noch Generationen beschäftigen wird.« Das wird stimmen. Der politische Widerstand ist groß, und gut zwei Drittel der US-Bürger lehnen finanzielle Entschädigungen ab. Ihre Begründungen klingen nicht viel anders als in einem Leitartikel der »Chicago Times« 1891 – oder bei Clemens Tönnies 2019, wenn er über Afrikaner redet. Die Schwarzen, so der Leitartikel, »wurden gelehrt zu arbeiten. Sie wurden die christliche Zivilisation gelehrt, und sie wurden gelehrt, die edle englische Sprache zu sprechen anstelle irgendeines afrikanischen Kauderwelschs. Mit den Ex-Sklaven sind wir quitt«.
Mitnichten, erwidert Aktivist Coates. Denn auch nach dem Ende von 250 Jahren Sklaverei, wurden die Schwarzen nicht sich selbst überlassen: »Sie wurden terrorisiert. Im Süden herrschte eine zweite Sklaverei. Im Norden wirkten gesetzgebende Organe, Bürgermeister, Nachbarschaftsorganisationen, Banken und Bürger zusammen, um schwarze Menschen in Gettos festzusetzen, wo sie übervölkert, übervorteilt und unterbeschult lebten.« Bis heute wirkt die Diskriminierung von Unternehmen, die Schwarzen die schlechtesten Jobs und die schlechtesten Löhne zuteilten. Polizeigewalt gegen Schwarze ist alltäglich. Für Coates steht fest: »Die Idee, dass schwarze Leben, schwarze Körper und schwarzes Vermögen berechtigte Angriffsziele waren, blieb in der Mehrheitsgesellschaft tief verwurzelt.«
Nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg 1865 müssen die Südstaaten die Abschaffung der Sklaverei akzeptieren. Doch die Freiheit der Schwarzen bleibt papiern.