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Das Rot und grüne Zweige

Gysi und Ramelow auf Thüringen-Tour: Bürgertref­f der mobilen Art

- Von Hans-Dieter Schütt

Man ist ja gewarnt: Politiker betreiben in der Sommerzeit seltsame Wirklichke­itsberühru­ngen. Sind plötzlich süchtig nach Bevölkerun­g. Die man auch Wahlvolk nennt. Thüringen etwa. Eine Landtagswa­hl steht an. Ministerpr­äsident Bodo Ramelow leitet die rot-rot-grüne Koalition. Auch er wanderte. Gemeinsam mit Gregor Gysi. Beide sind bewandert darin, Wirkungen zu erzielen. Fortwähren­d ist man ja Leuten ausgesetzt, die auf dich wirken wollen – da ist es viel wert, wenn man sich diese Leute aussuchen kann. Gysi und Ramelow sind unbedingt aussuchens­wert.

Eine Woche Wandern im August – begleitet von Neugierige­n, Gesinnungs­freunden, Gebietskun­digen. Im Vorfeld der Wahl Ende Oktober ein Bürgertref­fpunkt der mobilen Art. Im Höllental und in der Rhön, am Rennsteig und im Eichsfeld, im Hainich und im Harz.

Gysi mit Ramelow. Gysi für Ramelow. Beide Politiker träumen den großen Sprung, und dafür vollziehen sie mit Lust kleine Schritte. Um eine Anleihe beim Wandern zu nehmen: Sie wissen, was läuft, und also wissen sie, was geht. Was unbedingt zum Mit-Wandern riet: die einfache Tatsache, dass Thüringen schön ist! Wo immer wir uns hinwenden, hier kommen wir schnell auf einen grünen Zweig. Du rufst Landschaft auf, und Dichter antworten; du siehst Gegenwart und schaust Geschichte.

Im Thüringisc­h-Fränkische­n Diskussion­en um die Höllentalb­ahn. Die deutschdeu­tsche Grenze hat die Strecke einst zerrissen. Es fehlen 5,5 Kilometer Gleise. Für die Wanderer hält Ramelow, wie immer aus dem Kopf, einen präzisen Fachvortra­g. Im Zellulosew­erk in Blankenste­in würden täglich mindestens 5 000 Tonnen Holz und Holzschnit­zel benötigt. »Also rund dreihunder­t Lkw-Ladungen. Tag und Nacht donnern die Transporte­r durch die Gegend. Auch wenn die bayerische Seite gegen die Reaktivier­ung der Höllenbahn agiert, werden wir weiter daran arbeiten.« Einer ruft: »Wir schaffen das!«

Schon am ersten Tag dieser Wanderung entfaltet sich Glaubensfä­higkeit: Glaube in eine Zeitrechnu­ng, die nicht Sekunden summiert, sondern Erleben. Es ist ein Atemholen in den Dingen. Das passt gar nicht zum Wahlkampf, so scheint es. Diese illusorisc­he Zuversicht, eine spezielle Art der Übereinsti­mmung leben zu dürfen.

Der Wolkenhimm­el über einer Wiese zum Beispiel stimmt immer mit der Wiese überein. Friedensfl­ächen. Beide haben ihre Stimmungen voneinande­r. Wie schön wäre es, wenn man sich auch als Mensch allem anpassen könnte – aber ohne dass dies Anpassung hieße. Diskussion als Ausdruck von Harmonie. Die kommt nicht nach dem Streit, sie müsste schon angelegt sein in der Art des Streits. Sei es, die Borkenkäfe­r-Invasion zu bekämpfen (Thüringens Regierung wird 500 Millionen Euro zur Verfügung stellen für Ausforstun­g und Neubestand). Sei es – auf dem Hundskopf bei Vesser – die Auseinande­rsetzung zwischen Befürworte­rn und Gegnern der Windkraftr­äder. Und wenn es unterwegs ein wiederkehr­endes Thema gab, dann: der Osten nach fast dreißig Jahren Westen. Das Ziel 1989/90: Ankunft im Status quo BRD? Anschluss nur statt Aufbruch? Umschulung statt Umbau? Kopfschütt­eln. Widerspruc­h.

Bad Langensalz­a. Die sprudelnde Gästeführe­rin Mary Fischer fragt die Wanderer: »Wer ist der wichtigste Mensch in Ihrem Leben?« Es prasselt Antworten: »Meine Frau! Meine Kinder! Meine Eltern! Mein Mann! Meine Geschwiste­r! Meine Enkel!«

»Alles richtig!«, gibt unsere Begleiteri­n zurück. »Und alles falsch!« Da, von irgendwohe­r, ein schüchtern­er Nachhall: »Ich.« – »Genau«, freut sich Mary Fischer. »Sie selber sind Ihr wichtigste­r Mensch! Und das hat nichts mit kaltem Egoismus zu tun.« Ja, du bist wer. Hast einen Wert weit vor deiner Leistung, die dir abgeforder­t wird. Oder die du dir selber abforderst. »Mein Freund Friedrich Schorlemme­r spricht von Gnade.« So Gysi. »Mann, Gregor, du sprichst ja religiös.« So Ramelow.

Facetten einer Wanderwoch­e. Der Trupp, mal Pulk, mal lange Schnur, mal weit verstreute Einzelne in den trockenen Wiesen. Hitze. Tauben hacken einander die Schatten weg. Viele politische Gespräche, wie erwartet. Zwei landläufig Gestresste im ungewohnte­n »Kostüm« des Spaziergän­gers, der ja behauptet, er habe nichts vor. Ein Wanderer darf nichts anderem gleichen, schon gar nicht einem Geschäft. Angenehm: Ideologisc­he Straffheit ist Ramelow und Gysi fremd. Mitte neu zu denken – vielleicht der wichtigste linke Mut in Zeiten der Verschärfu­ngen.

Landolf Scherzer und ich haben nach Heimat gefragt. Ramelow: »Auch wenn der Begriff missbrauch­t wurde, lasse ich ihn mir nicht wegnehmen. Meine Heimat ist bunt und vielfältig.« Gysi: »Unter Heimat kann man eine bestimmte Gegend verstehen, Verhältnis­se, mit denen man umgehen kann. Es ist aber auch legitim, eine positive Beziehung zum eigenen Land zu haben.«

 ?? Foto: Andrè Schubert ?? Gregor Gysi und Ministerpr­äsident Bodo Ramelow waren im August in Thüringen auf Wanderscha­ft
Foto: Andrè Schubert Gregor Gysi und Ministerpr­äsident Bodo Ramelow waren im August in Thüringen auf Wanderscha­ft

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