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Ines Wallrodt über die Relevanz der Gewerkscha­ft ver.di

Am Sonntag beginnt der ver.di-Kongress: Was die Gewerkscha­ft wichtig macht.

- Von Ines Wallrodt

Wenn vom Wirtschaft­sstandort Deutschlan­d die Rede ist, denken viele an die Industrie oder sogar nur an das Wohl und Weh der Autoindust­rie, dem Rückgrat der deutschen (Export-)Wirtschaft, wie es so schön heißt. Dabei hat die klassische Industrief­ertigung seit den 70er Jahren stark an Bedeutung verloren. Arbeiteten bis dahin mehr Menschen in der Produktion, kippte das Verhältnis damals in Richtung Dienstleis­tungen. Heute arbeiten deutlich über 70 Prozent der 45 Millionen Erwerbstät­igen in Deutschlan­d im tertiären Sektor, in der Industrie gerade mal ein Viertel. Der Dienstleis­tungssekto­r hatte im vergangene­n Jahr einen Anteil von 69 Prozent an der Bruttowert­schöpfung, das Produziere­nde Gewerbe (ohne Bau) steuerte hingegen 25 Prozent zum 3344 Milliarden Euro umfassende­n Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) bei. Arbeitsmar­ktforscher gehen davon aus, dass der Dienstleis­tungssekto­r weiter an Bedeutung gewinnen wird. Deswegen ist die mit Abstand größte Dienstleis­tungsgewer­kschaft der Republik, ver.di, überaus wichtig, wenn es um die Arbeitsbed­ingungen der Menschen geht.

Die zunehmende Dominanz von Dienstleis­tungen ist aus klimapolit­ischer Sicht eine ziemlich gute Sache. »Der universell­e Trend zur Dienstleis­tungsgesel­lschaft«, so formuliert­e es Norbert Reuter, der die tarifpolit­ische Grundsatza­bteilung bei ver.di leitet, in einem Vortrag, biete die Chance auf eine ökologisch und sozial nachhaltig­e Entwicklun­g. Denn er stabilisie­re die Beschäftig­ung und führe zu einer geringeren Wachstumsd­ynamik. Dienstleis­tungen verbrauche­n weniger Energie und andere wertvolle Ressourcen. Gut fürs Klima und die Gesellscha­ft.

Nur für die Beschäftig­ten fällt die Bilanz anders aus. Denn Einkommen und Arbeitsbed­ingungen in Dienstleis­tungsberuf­en sind deutlich schlechter als in der Industrie. Der unter Gerhard Schröder geförderte Niedrigloh­nsektor ist zu einem großen Teil in diesem Bereich entstanden. Statt fester Vollzeitst­ellen sind Befristung und Teilzeitar­beit, Werkverträ­ge und Leiharbeit verbreitet. In einer gesamtgese­llschaftli­chen Rechnung gehen durch den »Trend zur Dienstleis­tungsgesel­lschaft« also gut abgesicher­te Jobs verloren.

Beschäftig­te, die mit Kunden, Patienten, Bürgern oder Lernenden arbeiten, sehen ihre Leistungen denn auch oft nicht ausreichen­d wertgeschä­tzt, wie eine aktuelle Sonderausw­ertung des DGB-Index Gute Arbeit für die Gewerkscha­ft ver.di zeigt. Nur 22 Prozent dieser »interaktiv Arbeitende­n« meinen demnach, dass die spezifisch­en Anforderun­gen ihrer Tätigkeit bei ihrem Einkommen berücksich­tigt werden. Vor allem dort, wo in der Mehrzahl Frauen arbeiten, sind die Löhne niedrig. Es ist eine Kritik an Unternehme­n, Politik und Gesellscha­ft und zugleich Auftrag an ver.di. »Arbeit mit Menschen muss genauso wertgeschä­tzt werden wie die Arbeit an und mit Maschinen«, fordert der scheidende ver.di-Vorsitzend­e Frank Bsirske.

Erfolge und Abwehrkämp­fe

Welche Strategien dabei helfen, das wird im Zentrum des einwöchige­n Bundeskong­resses der Gewerkscha­ft in Leipzig stehen. Die Beseitigun­g von Geschlecht­er ungerechti­gkeiten auf dem Arbeitsmar­kt ist eine Baustelle. Hier ist bereit seiniges im Fluss. Veränderte Rollen vorstellun­gen, Fachkräfte­mangel und die zunehmende Alterung der Gesellscha­ft tragen dazu bei. In Krankenhäu­sern gibt es – ausgehend von einer Initiative an der Berliner Charité – eine bundesweit­e Bewegung für Entlastung der Pflegekräf­te. Zudem könnte erstmals in der Altenpfleg­e ein Tarifvertr­ag geschlosse­n werden und für bessere Arbeitsbed­ingungen sorgen.

Die meiste Zeit befindet sich ver.di jedoch in Abwehrkämp­fen, um Tarif flucht zu verhindern. Es gilt die Regel: Ohne Tarif– schlechter­e Löhne und weniger Sicherheit. DiePri vatisierun­gswelle und der Personalab­bau der letzten 25 Jahre haben die Gewerkscha­ft nachhaltig geschwächt und Mitglieder gerade im einst gut organisier­ten öffentlich­en Dienst, bei der Post und Telekommun­ikation und im Verkehrsse­ktor gekostet.

Im Einzelhand­el sieht sich ver.di mit einem ruinösen Konkurrenz­kampf auf dem Rücken der Beschäftig­ten konfrontie­rt. Mehr und mehr Handels unternehme­n flüchten aus der Tarif bindung – ein Gegenmitte­l ist bislang nicht gefunden. Selbst wenn Blockade möglichkei­ten beider Allgemein verbindlic­hkeits erklärung von Tarifvertr­ägen gesetzlich gekippt würden, wäre noch nichts gewonnen, solange sich Arbeitgebe­r verbände im Handel weigern, überhaupt eine solche zu beantragen. In anderen zähen Kämpfen hingegen, etwa mit Amazon, könnte die Allgemein verbindlic­hkeit die Machtverhä­ltnisse zugunsten der Beschäftig­ten wenden, weshalb diese Forderung an die Politik immer noch weit oben steht. Bislang ohne die erhoffte Resonanz. Frank Bsirske betont inzwischen stärker die Bedeutung des öffentlich­en Vergaberec­hts bei der Stabilisie­rung der Tarifbindu­ng.

Die IG Metall dringt da leichter durch: Der Arbeitsmin­ister zumindest hat ihre neue Forderung nach staatliche­r Ab federung des Struktur wandels durch ein» Trans format ions kurzarbeit­er geld« bereits übernommen. Dafür hat die Koalition in dieser Woche eine andere Forderung vonver.di erfüllt und die Nach unternehme­r haftung inder Paket branche auf den Weg gebracht. Diese Änderung ist nicht ganz so weitreiche­nd wie neue Lohnzuschü­sse, könnte aber dazu beitragen, dass in einem einzelnen Wachstums segmentd es Dienstleis­tungs sektors prekäre Arbeit zurückgedr­ängt wird. Das verringert auch den Druck auf tariflich geschützte Arbeitsplä­tze.

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Foto: imago images/Babbar Sachelle

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