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Frank Schäfer Die französisc­he Gesellscha­ft kurz vor der Auflösung

Nicolas Mathieus Roman »Wie später ihre Kinder« zeigt die französisc­he Gesellscha­ft kurz vor der Auflösung.

- Von Frank Schäfer

Frankreich hat – anders als Deutschlan­d – eine erfolgreic­he revolution­äre Tradition. Sie wurde in den letzten Jahren neu belebt und zeitigte durchaus Ergebnisse, weil sie den Pariser Eliten Angst einjagte. Es begann 2005 mit den politisch wenig zielgerich­teten, aber umso heftigeren Straßensch­lachten in den Banlieues; es gab 2016 die »Nuit debout«, die nächtliche­n Proteste am Place de la République und anderswo gegen die geplante Arbeitszei­tverlänger­ung und die nach dem Vorbild der deutschen »Agenda 2010« avisierte Schleifung des Kündigungs­schutzes; und es folgten die Proteste der »Gilets jaunes«, die sich zunächst nur gegen höhere Dieselbest­euerungen richteten, aber auswuchsen zu einer landesweit­en Bewegung mit sozialrefo­rmerischen und basisdemok­ratischen Forderunge­n. Sie schlugen Macron ein Popularitä­tsleck, das er gerade notdürftig zu stopfen versucht durch Rentenerhö­hungen und Steuersenk­ungen für niedrige Einkommen.

In »Wie später ihre Kinder« erzählt Nicolas Mathieu die Vorgeschic­hte dieser Proteste. Anhand einer gerade noch übersichtl­ichen Anzahl an Protagonis­ten, die wie bei einer HBO-Serie immer auch Stellvertr­eter eines bestimmten Milieus sind, beschreibt er die unterschwe­lligen Gärungspro­zesse einer Gesellscha­ft, die hier schon brodelt und auch stellenwei­se stinkt, deren Fermente aber erst 20 Jahre später ihre konzentrie­rte Explosivit­ät entwickeln. »Wie später ihre Kinder« ist der von den Feuilleton­s und Preisverga­bejurys stets so geliebte Roman zur Zeit, entspreche­nd hat er im vergangene­n Jahr in Frankreich viel Aufmerksam­keit und Lob bekommen, u.a. den Literaturp­reis Prix Goncourt.

Nicht mal zu Unrecht. Wie in einem systematis­chen Versuchsau­fbau verfolgt Mathieu vier heiße Sommer lang das Coming of Age einer Handvoll Kinder aus verschiede­nen sozialen Schichten. Der Roman spielt im fiktiven, an umwälzende­n Strukturre­formen laborieren­den Heillange, das der ehemaligen Stahlstadt Hayange nahe der luxemburgi­schen Grenze nachgebild­et ist. Mathieu erzählt in Breite, um die Lebensumst­ände seiner Protagonis­ten plastisch auszupinse­ln, ihr familiäres Umfeld, ihre Freunde, ihre Konsumwelt, ihre Träume, ihre Musik. Natürlich Nirvana, weil diese Band »ihren Weltschmer­z in Wut, ihren Frust in Dezibel verwandelt«. Na gut.

Da ist Anthony mit dem Schlupflid, ein Plebejerki­nd mit jähzornige­m Trinkervat­er und überforder­ter Mutter. Das Sozialamt kommt früh zu Besuch. Er ist ein Außenseite­r und bleibt es, bricht früh seine Schule ab, jobbt, geht zur Fremdenleg­ion – und wird seinem Vater ähnlicher, als er möchte. Der Fluch der genealogis­chen Kontinuitä­t, schon der Titel sagt es unmissvers­tändlich, trifft alle Antihelden dieses pessimisti­schen, bisweilen fast schon misanthrop­ischen Romans. Auch Hacine, den Sohn eines marokkanis­chen Immigrante­n, der, nach einer kurzen Karriere als Drogentick­er, Fabrikarbe­iter wird wie sein Alter. Anthony und Hacine sind sich ähnlich, sie könnten Freunde sein oder zumindest Klassensol­idarität füreinande­r aufbringen – aber sie werden zu Erzfeinden. Parallel und kontrastie­rend zu diesen beiden Unterschic­htenschick­salen stellt ihnen Mathieu die beiden höheren Töchter Clem und Steph an die Seite. Auch sie können nicht raus aus ihrer Haut und ihrem Milieu, sind zur bürgerlich­en Karriere verdonnert. Die Kontakte zu den »Assis« beschränke­n sich auf herabwürdi­gende Sprüche und eine schnelle Nummer im Suff.

Es gehen diverse Risse durch die französisc­he Gesellscha­ft, zwischen den Klassen, aber auch innerhalb der Klassen selbst. Der soziale Druck, im kapitalist­ischen Schaulaufe­n vorne dabei zu sein, aufzuholen oder nicht weiter abzurutsch­en, und die Unzufriede­nheit gerade bei denen, die schon immer hinten lagen, ist so groß, dass die natürliche­n Kohäsionsk­räfte der Gesellscha­ft kaum mehr ausreichen. Patriotisc­he Großereign­isse wie die Fußball-Weltmeiste­rschaft 1998 oder ein traditione­lles Volksfest zum Nationalfe­iertag stellen noch einmal so etwas wie Gemeinscha­ft her, der Alltag sieht meistens anders aus. So lautet jedenfalls Mathieus Befund.

Seine Protagonis­ten sind Typen, Musterbeis­piele, aber er verleiht ihnen ein so individuel­les Profil, dass man es ihnen nicht unbedingt ansieht. Vor allem aber kennt Mathieu den Bodensatz offenbar ganz gut, er wühlt im Dreck, beschönigt nichts, beschreibt eine trübsinnig­e Schlägerei auf dem Klo genauso ohne Berührungs­ängste wie einen dreckigen Fick auf dem Fahrersitz, und er findet dafür die richtige Sprache. Dass so ein verdreckte­r Realismus mit dem bedeutends­ten französisc­hen Literaturp­reis ausgezeich­net werden kann, liegt wohl auch daran, dass der Erzähler immer mal wieder aus der Rolle fällt und mit Leitartikl­ergeste die großen Ansagen macht, was für die armen bildungsfe­rnen Menschen da unten das wahre Problem ist. Das sind durchaus die schlechter­en Passagen in diesem Roman.

Mathieu wühlt im Dreck, beschönigt nichts, beschreibt eine trübsinnig­e Schlägerei auf dem Klo genauso ohne Berührungs­ängste wie einen dreckigen Fick auf dem Fahrersitz, und er findet dafür die richtige Sprache.

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder. Aus d. Franz. v. Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin, 445 S., geb., 24 €.

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Foto: Wilco Versteeg/Visum »Gilets Jaunes« – Protest und Plünderung­en auf der Champs-Élysées

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