Uwe Hoßfeld über »Rasse« als soziales Konstrukt
Emilia Roig fordert, nicht den Begriff »Rasse« zu tilgen, sondern die Hierarchien, die er produziert
Dass die Deutsche Zoologische Gesellschaft erst im Jahr 2019 eine Erklärung veröffentlicht, in der sie die wissenschaftliche Einteilung in menschliche »Rassen« offiziell als Konstrukt erklärt, zeigt an sich schon die Rückständigkeit der deutschen Debatte zum Thema Rassismus und »Rasse« – besser spät als nie.
Menschliche »Rassen« existieren im biologischen Sinne nicht – das haben Wissenschaftler*innen aus den USA bereits im 20. Jahrhundert belegt. »Rassen« sind historische, politische und soziale Konstrukte, die unsere gelebte Erfahrung als Menschen entscheidend prägen. Die Debatte sollte sich dementsprechend darauf konzentrieren, wie die Einteilung in vermeintliche »Rassen« auf juristischer, politischer und gesellschaftlicher Ebene auf den Menschen wirkt. Und jene Hierarchien zwischen Menschen thematisieren, die durch die Kategorie »Rasse« geschaffen wurden.
In Deutschland leben wir in der Illusion einer post-rassistischen Epoche, die mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges anfing. Seitdem wird der Rassebegriff als eine veraltete Kategorie in die Vergangenheit verlagert und seine Wirkung als politisches und soziales Konstrukt heruntergespielt. In dieser Logik wirkt auch der Rechtsbegriff »Rasse« anachronistisch. Als Reaktion auf die Jenaer Erklärung fordern nun einige Initiativen und Wissenschaftler*innen erneut, den Begriff aus dem Grundgesetz zu streichen, beziehungsweise ihn zu ersetzen. Das Hauptargument dafür lautet: Das wissenschaftlich irrtümliche Konzept habe die Fundamente mörderischer Ideologien gelegt und habe deshalb in der Gesetzgebung demokratischer Staaten nichts verloren. Die Streichung des Begriffs »Rasse« wird von Befürworter*innen als notwendige Bedingung für eine tolerantere und anti-rassistische Gesellschaft angesehen. Doch es drängt sich die Frage auf, ob die Tilgung des Begriffs »Rasse« tatsächlich der Bekämpfung von Rassismus zugute käme.
Die öffentliche Debatte ist durch ein defizitäres Verständnis der Begriffe »Rasse« und »Rassismus« gekennzeichnet. Zunächst sind viele davon überzeugt, dass ein Verzicht auf den Begriff großen sozialen Fortschritt einleite. Rassismus wird in dieser Logik weniger als strukturelles und systemisches Phänomen wahrgenommen, sondern als eine Frage der individuellen Handlung fehlgedeutet. Um mögliche Rechtsschutzlücken aufgrund einer bloßen lexikalischen Ersetzung im Grundgesetz zu vermeiden, schlagen manche die Alternativformulierung »rassistisch« vor. Ein solcher Vorschlag beruht auf der Annahme, »Rasse« sei per se eine negative und verächtliche Kategorie. Trifft dies wirklich zu? Es stellt sich die Frage, wie dann die Selbstbezeichnung »Schwarz« zu deuten ist: als eine rassische oder rassistische? Und müssen Forscher*innen rassistische Denkweisen unterstellt werden, wenn diese sich Themen wie Überrepräsentation von »weißen französischen und deutschen Männern« in den begehrten Segmenten des Arbeitsmarkts widmen? Ist es überhaupt möglich über Weißsein und strukturelle Benachteiligungen zu sprechen, wenn Rasse nicht mehr berücksichtigt wird?
Diese Fragen sind nicht nur rhetorischer Art. Sie zielen darauf ab, die Inkonsistenzen in der Debatte aufzudecken. Auch wenn »Rasse« ein Konstrukt ist, werden Menschen trotzdem aufgrund dessen wahrgenommen und behandelt. Es macht aus heutiger Perspektive kaum einen Unterschied, ob »Rasse« ein biologisches oder ein historisch-politisches Konstrukt ist – seine Auswirkungen in Form von Vorurteilen, Benachteiligungen und Privilegien sind real. Mit dem Verzicht auf die rechtliche Kategorie »Rasse« wird der Kampf gegen Rassismus wesentlich erschwert – oder gar unmöglich gemacht.
Emilia Roig lehrte in Deutschland, Frankreich und den USA zum Thema Mehrfachdiskriminierung, Postkoloniale Studien sowie Völkerrecht und Europarecht. Sie ist die Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice in Berlin.