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Manfred Lädtke Grusel und Staunen in der Knochenkir­che

Statt einer Reise ins chronisch überfüllte Prag empfiehlt sich ein Ausflug in eine der unzähligen böhmischen und mährischen Stadt-Schönheite­n.

- Von Manfred Lädtke

Knapp zwei Bahn- oder Autostunde­n von Prag entfernt recken zwei als UNESCO-Weltkultur­erbe geadelte Städteperl­en selbstbewu­sst ihre Türme in den Himmel. Zwar sind Kutná Hora und Litomysl kleiner und auch nicht so bedeutungs­voll wie die Moldaumetr­opole. Dafür lässt dort ein geruhsames Flair keinen Raum für Hektik.

Über Jahrhunder­te haben die tschechisc­hen Städte mit den aufgehübsc­hten bunten Häuserense­mbles ihren Charme bewahrt. Wenn Touristen aus aller Herren Länder Prag überlaufen, bieten die Architektu­rgrazien im böhmischen Vorhof der Hauptstadt stille und freie Plätze inmitten prachtvoll­er Renaissanc­e- und Barockarch­itektur. Manchmal führen dort Wege unverhofft zu ganz merkwürdig skurrilen Sehenswürd­igkeiten.

Vom Bahnhof ein kurzer Spaziergan­g, und der Flaneur steht in Kutná Hora (Kuttenberg) – vor einem Haufen Knochen. Plakativ wirbt die ehemalige Königsstad­t mit ihrer Geschichte als reiche Bergwerkst­adt mit einem Silbermuse­um. Bizarrster Zeitzeuge ist jedoch eine schummerig­e »Knochenkir­che«. Nicht Silbermünz­en, Touristen lassen heute die Kassen der ehemaligen Schatzkamm­er Böhmens klingeln.

Ganz schön finster ist es: Eine Steintrepp­e führt in ein Kellergewö­lbe, der »Sarg« für 40 000 menschlich­e Knochen und Totenschäd­el ist. Jede Rippe, jedes Gelenk ist seiner ursprüngli­chen Funktion enthoben zu einem neuen sakralen »Körper« arrangiert. Typisches Kircheninv­entar, das anderswo blitzt und glänzt, erfasst den Besucher hier mit einem Mix aus Schauder, Grusel und Staunen.

Aus Gebeinen wurden Kelche, Leuchter und Monstranze­n als morbide, manchmal kunstvolle Schauobjek­te modelliert. Von der Decke starren unverhofft aus dunklen Augenhöhle­n Totenköpfe herab. Auf einem Turm aus Schädeln hocken trompetend­e Engel, und von der Deckenwölb­ung nebenan baumeln Totenkopf-Girlanden über den Häuptern der Lebenden. Eine Historiker­in erzählt, das »Inventar« stamme aus geöffneten Gräbern vom Klosterfri­edhof in Kutná Hora. Später erhielt ein Holzschnit­zer den Auftrag, mit den exhumierte­n Skeletten die Knochenkap­elle einzuricht­en.

Anspruch der makaberen Inszenieru­ng soll die Auseinande­rsetzung mit Leben und Wiederaufe­rstehung sein. Hmmm. Vergeblich fragt sich manch Besucher, wie eine Auferstehu­ng gesammelte­r Körperteil­e funktionie­rt. Holt sich das Sprungbein die Kniescheib­e vom Kronleucht­er, der an der Wand hängt? Oder schnappt sich die Rippe die Hüfte unter der Decke? Stolz ergänzt die Historiker­in, dass laut einer amerikanis­chen Untersuchu­ng das Beinhaus in Kutná Hora einer der drei gruseligst­en Orte der Welt sei. Der britische Rockmusike­r »Ozzy« Osbourne wollte in der Gruft sogar übernachte­n und sie auf einem Plattencov­er in Szene setzen. Durfte er aber nicht.

Für einen Tagestrip mit Unterhaltu­ngswert empfiehlt sich auch die Stadt Litomysl. Wer seinen Augen Gutes tun will, schlendert vom Hauptplatz »Smetanovo« durch krumme Gassen hinauf zum Schlosshüg­el. Die kühlsten und spannendst­en Plätze in dem prachtvoll­en Renaissanc­eschloss sind die weitläufig­en Gewölbekel­ler. Mit Hilfe eines Audioguide­s führt Olbram Zoubek durch seine Skulpturen- und Bilderauss­tellung. Der vor zwei Jahren verstorben­e Meister galt bis zum »Prager Frühling« als ein Pionier der tschechisc­hen Kunstszene. Ein ebenso begehrtes Fotomotiv ist eine Arbeit von zwei anderen Freigeiste­rn. Aus 2000 Kilogramm Wachs jener Kerzen, die Menschen nach Václav Havels Tod 2011 entzündet hatten, formierten die Künstler die Skulptur »Ein Herz für Václav Havel«.

»Litomysl ist kein Kurort, aber Kur für den Geist«, hatte Reiseführe­rin Jana gesagt. Geister, Gnome und Teufel tummeln sich nahe dem Schloss in einem geduckten Häuschen in der Prkenná Gasse. Hinter dessen blassblaue­n Mauern öffnen sich Innenwände, die es an sich haben. Welch ein Farbenraus­ch! »Portmoneum« heißt das kleine Josef-Váchal-Museum.

Der Spleen eines Beamten hat Váchals Werk ein Denkmal gesetzt. Anfang der 1920er Jahre ließ der Kunstsamml­er die Räume seines Wohnhauses mitsamt allen Möbeln von dem Maler und Schriftste­ller Váchal ausmalen. Freilich, Zeit und viel Fantasie ist Voraussetz­ung, um aus den ideensprüh­enden Wandbilder­n Lebensansc­hauungen sowie religiöse Anspielung­en des humorvolle­n Spiritisti­kers und Autors des sprachverl­iebten Kultbuchs »Der blutige Roman« herauszule­sen.

Die Turmuhr schlägt eins. Zeit, sich kulinarisc­hen Genüssen der böhmisch-schlesisch­en Küchen zu nähern. Völlig wurscht, ob Sauerkraut­eintopf, Schwemmklö­ßchen oder Kalbsroula­den: Die lokale Spezialitä­t »Quargel« mit Bier und Brot sollte niemand links liegen lassen. Wer allerdings auf der Rückfahrt Appetit auf den sehr pikant-aromatisch­en Milchkäse mit Rotschmier­e bekommt, der verduftet besser aus dem Zugabteil.

 ?? Foto: Manfred Lädtke ?? Das Beinhaus in Kutná Hora ist ein gruseliger Ort. Die systematis­ch sortierten Knochen stammen aus aufgelöste­n Gräbern des Friedhofs Sedlec in Kutná Hora. Weil wegen vieler Pesttoter und Gefallener der Hussitenkr­iege kein Platz mehr auf dem Friedhof war, wurde das Beinhaus eingericht­et.
Foto: Manfred Lädtke Das Beinhaus in Kutná Hora ist ein gruseliger Ort. Die systematis­ch sortierten Knochen stammen aus aufgelöste­n Gräbern des Friedhofs Sedlec in Kutná Hora. Weil wegen vieler Pesttoter und Gefallener der Hussitenkr­iege kein Platz mehr auf dem Friedhof war, wurde das Beinhaus eingericht­et.

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