Kein Balkon für Mussolini
Einstige Vorzeigedörfer der italienischen Faschisten haben heute neue Sorgen, aber die Geschichte ist immer dabei
Das Dorf Arborea auf Sardinien trug einst den Namen von Italiens Diktator Benito Mussolini. Dort gibt es heute die Sorge, Wallfahrtsort für Neofaschisten zu werden. Denn Mussolinis Erbe hat bis heute Fans. »Nein, bloß kein Foto mit dem Duce!«. Die Bürgermeisterin von Arborea scheint kurz davor, die Fassung zu verlieren. Vom Balkon ihres kühlen Büros schaut sie geradewegs auf Versammlungsplatz und Dorfkirche. Ende der 1920er Jahre, der italienische Mussolini-Faschismus saß fest im Sattel, wurde das kleine Dorf mit Palmen und Pinienwäldern, nur einen kleinen Fußweg von Sardiniens feinem Mittelmeer-Strand, als »Villagio Mussolini« aus dem Sumpfmorast gestampft. Um dann, 1930, auf den Namen »Mussolinia« getauft zu werden. Nach ihm, dem Duce – »Führer« der italienischen Faschisten. Manuela Pintus ist Bürgermeisterin dieses geschichtsträchtigen Ortes. Sensibilität ist da ständig gefragt, und bei der Wahl des Fotomotivs will sie auf jeden Fall ein Wörtchen mitreden.
Wie schmal der Grat zwischen Geschichte und Gegenwart hier ist, ist schon kurz zuvor deutlich geworden. Im Café an der Hauptstraße nach der Geschichte der einst faschistischen Vorzeige-Siedlung gefragt, stürzen zwei unverschämt hilfsbereite Carabinieri ihre Mittags-Espressi mit einem kurzen Nackenruck hinunter. Freundliche Aufforderung, ihnen zu folgen. Auf dem Weg Richtung Rathaus tüten sie am Telefon ein Sofortinterview im Rathaus ein. Und liefern die Gäste, keine Viertelstunde später, bei der Stadtoberen ab. Unterwegs zeigt einer der beiden Uniformierten ein Handyvideo aus der alten Stadtvilla, die gleich rechts neben den Rathaustreppen verlassen vor sich hin träumt: »Hier hat Mussolini mal übernachtet. Hier sehen Sie mich am Billardtisch. Der ist original. Da hat er wirklich dran gespielt. Wenn Sie Zeit haben, können wir Ihnen die Villa zeigen.« In der Stimme des Dorfpolizisten liegt diese seltsame Mischung
aus nackter Machtfaszination, treu-naivem Lokalstolz und vernünftigem Rest-Unwohlsein, das die meisten Zeitgenossen dann doch beschleicht, wenn sie gedankenlos von Figuren der Geschichte schwärmen, deren Größenwahn Spuren bis heute hinterlassen hat und an deren Händen so viel Leid und Blut klebt wie im Falle Mussolinis.
Manuela Pintus macht sich vorm Ablichten beim Pressetermin schnell die Haare. Ein bisschen Rouge auf die Wangen, Lippenstift, Bluse glatt gestrichen. Die junge Frau gibt sich gar nicht erst Mühe, wie eine abgeklärte Berufspolitikerin zu wirken. Sie legt ihre Bürgermeisterinnen-Schärpe neben einem der Aktenstapel ab und nimmt, fast verlegen, an ihrem riesigen Holzschreibtisch Platz. Hinter ihr das Europa-Sternenbanner, die italienische Trikolore, die Fahne Sardiniens und die von Venedig, Schwesterstadt und einstige Heimat vieler Bewohner von Arborea.
Vor der Sindaca, der Bürgermeisterin, liegt breit der Stein des Anstoßes. Ein dickes Buch aus inzwischen vergangenen Zeiten: »Brigata Mussolinia«. Fette Buchstaben in hartem Schwarz verkünden die morbide Erlöserbotschaft des fascismo: »Glauben. Gehorchen. Kämpfen«. Mit Stahlhelm, gemalt im epischen Heldenprofil der Römer, schaut der damalige Namensgeber des 4000-Seelennestes siegesgewiss, uniformiert, unkaputtbar in eine heilsbringende Zukunft. Nein, ein Foto zusammen mit diesem Monster, wenn auch nur in einem Buch, das will sie nicht machen. Schnell räumt sie den FaschoKlopper weg. Zu gruselig. Zu giftig. Zu rückwärtsgewandt.
Wir sitzen in einer italienischen Amtsstube, wie sie es im ganzen Land zu Hunderten gibt. Gleich über dem Kopf der Bürgermeisterin hängt ein bescheidenes Kruzifix mit schmalem Gipsjesus an der Wand. Unterm Christus vermittelt das Porträt Staatspräsident Sergio Matarellas das Bild einer heilen Welt im fernen Rom, allen Regierungskrisen trotzend. Manuela Pintus, gelernte Biologin und Umweltaktivistin, die mit ihrem erfolgreichen Protest gegen umweltzerstörende Methangas-Fördertürme in ihrer Heimat bekannt und am Ende Bürgermeisterin wurde, ist vorsichtig. Auf keinen Fall darf das einstige Mussolinia im Westen Sardiniens, Provinz Oristano, zu einem Wallfahrtsort für Faschismus-Fans aus Italien und dem Rest der Welt werden. »Die Rechte in Italien hat schon genug Macht, da müssen wir nicht noch den Duce, den Führer in der Zeitung zeigen«, bereitet Manuela Pintos ihren Vortrag über die einstige FaschoModellsiedlung vor.
Die Stadtobere holt nun einen dicken Band mit Zeitzeugenberichten von Einwandererfamilien heraus, die vor 100 Jahren das Festland Richtung Arborea verließen. Nachdem Italiens Faschisten 1922 die Macht an sich gerissen haben, muss das Römische Imperium als historische Konstante für den nationalistischen Führungsanspruch herhalten. Nicht nur Rom wird städtebaulich geschleift und modern-klassizistisch auf Römisches Reich umfrisiert. In ganz Italien werden ein Dutzend faschistische Modellsiedlungen aus dem Boden gestampft, die es nach dem Willen der Herrscher mit Menschenmaterial zu füllen gilt. Die Faschisten, die sich selbst gern in schwarzer Kampfmontur mit Palmenzweig zeigen, wollen den brodelnden Klassenkampf mit Gewalt einebnen und eine Nation mit braven Untertanen formen.
Zehntausende verarmte Bauernfamilien werden mit Lockangeboten – sichere Arbeit, eigenes Haus, gute Bildung für die Kinder, Gesundheitsversorgung – in die Musterdörfer umgesiedelt. In Propaganda-Wochenschauen werden Sportstätten, Schwimmhallen und Massengymnastik-Spiele
für den gesunden »Volkskörper« vorgeführt. Neue Schulen und technisierte Feldarbeit, hohe katholische Kirchtürme neben faschistischen Kulturhäusern, kollektivistische Landwirtschaftsbetriebe, Traktoren, Bergwerke und Staudämme lassen die kapitalistische Fortschrittswalze und den ewigen Herrschaftsanspruch der italienischen Nazis als fröhlich-gesellige Landkommunen-Story aus dem Alten Rom erglänzen. Auch aus Mussolinia werden dem italienischen Publikum Rekordzahlen von Gurkenernten, neuen Straßen und trockengelegten Sumpflandschaften vermeldet.
Die Wirklichkeit ist eine andere: Schuften bis zum Umfallen, das angebliche Gratis-Haus muss abgezahlt werden – eine Aufgabe auf Lebenszeit. Hinzu kommen totale Überwachung durch den Führerstaat, Indoktrinierung von Familie und Kinder durch Faschismus und Religion. Eine Chance auf Rückkehr in die Herkunftsorte gibt es nicht.
»Es gab Konflikte mit den Alteingesessenen aus Sardinien, die mit der Kultur der Einwanderer, die meisten aus Venedig, nicht klarkamen«, erzählt die Bürgermeisterin. »Die Frauen aus Venedig sind Frauen von Fischern, sie haben das Sagen, wenn die Männer wochenlang zum Fischen auf dem Meer sind, und sie sind darum viel selbstbestimmter als die Frauen der Bauern aus Sardinien«, erinnert Pintus an den handfesten Skandal, als Venezianerinnen mit kurzem Rock über die heiße Insel radelten. Die Sarden, oft Viehhirten, seien zudem nicht daran gewohnt, in Gruppen zu arbeiten. Auch dass in Venedig und Sardinien damals ein unterschiedliches Italienisch gesprochen wurde, machte das Zusammenleben anfangs alles andere als leicht. »Heute klappt das, ich muss es ja wissen, bin selbst aus einer venezianischen Familie und mit einem Sardo verheiratet«, lacht die Politik-Quereinsteigerin, jetzt deutlich entspannt.
Beim Thema Mussolinia aber bleibt Arboreas Bürgermeisterin hart. Kein Wort zur Fascho-Vergangenheit des Ortes und seinem Namensgeber. Ihre Vorsicht hat gute Gründe. Auch in
Italien ist der Führerkult nicht tot. Viele wünschen sich einen starken Mann, jemanden, der mal aufräumt. In Mussolinis Geburtsstadt Predappio in der hügeligen Emilia-Romagna, wo der Diktator und seine Familie begraben sind, ist eine regelrechte Pilgerstätte für Neofaschisten entstanden, mit Gedenkmärschen, Hakenkreuz-Shop und Selfies vorm Führergrab. Auch Mussolinis Ideologie lebt wieder auf. »Der Faschismus ist eine große Mobilisierung materieller und moralischer Kräfte. Was ist sein Ziel? Die Nation zu regieren. Wir glauben nicht an dogmatische Programme. Wir werden uns den Luxus leisten, aristokratisch und demokratisch, konservativ und progressiv, reaktionär und revolutionär, legal und illegal zu sein, je nach der Lage, der Zeit, des Ortes und der Umgebung«, brachte der Sozialistenhasser 1934 seine verführerische Mogelpackung auf den Punkt.
Eine Möchtergern-Anti-Establishment-Weltanschauung, die damals für viele Demokratie-Enttäuschte und veränderungsunwillige Eliten ein attraktives Angebot war. Eine Propaganda, die heute von Donald Trump, AfD-Mann Höcke bis Mateo Salvini, Parteichef der rechtsextremen Lega, bedient wird. Letzten Sommer im Europa-Wahlkampf brach der Hetzer gegen Migranten und Andersdenkende ein neues Tabu. Unweit von Mussolinis Geburtsort, in der Kleinstadt Forlì, sprach der damalige Innenminister von einem Balkon, den seit Ende des Faschismus kein Politiker mehr betreten hat. Es ist der Balkon, von dem Mussolini einst ganz besonders gern zu den Massen sprach.
1944 wussten es die Siedler von Sardinien besser. Sie verbannten Mussolinia dahin, wo es hingehört: in die Geschichtsbücher. Die Sorgen in Arborea sind heute andere, entschuldigt sich die Bürgermeisterin beim Abschied. Rom hat einen Sparkurs erlassen, die Stadtkasse ist leer, darum habe sie keine Visitenkarte. Beim Gang durch den Stadtpark, ein Blick zurück aufs Rathaus, ist die Welt in Arborea nicht die schlechteste: Lieber keine Visitenkarte in der Tasche als Faschisten auf dem Balkon.
1944 wussten es die Siedler von Sardinien besser. Sie verbannten Mussolinia dahin, wo es hingehört: in die Geschichtsbücher.