nd.DerTag

Distanz und Nähe

Die Epidemie weckt vielerorts Solidaritä­t. In Zeiten des Abstands kommen sich Menschen näher

- Von Fabian Hillebrand, Leipzig

Das Coronaviru­s verändert unseren Alltag rasant und grundlegen­d. Abstand birgt die Gefahr sozialer Isolation. Vielen verschafft die Situation aber auch ungeahnte Kontakte.

Ein Abschied. In einer kleinen Dachgescho­sswohnung in Leipzig sagen sich zwei Menschen auf unbestimmt­e Zeit Adieu. Zumindest körperlich. Sie arbeitet im Gesundheit­swesen, fährt täglich in eine Klinik auf dem Land. Er gehört zur »Risikogrup­pe«. Sein Immunsyste­m ist aufgrund einer Vorerkrank­ung geschwächt. Trotz jungen Alters raten die Ärzte zu Vorsichtsm­aßnahmen. Eine letzte Umarmung auf dem Podest vor dem Fenster. Die Schienen der stillgeleg­ten Bahnstreck­e, die in Richtung Völkerschl­achtdenkma­l entschwind­en, scheinen heute noch trostloser. Es ist erst früher Nachmittag, die Stille im Zimmer ist drückend.

Das Coronaviru­s bringt vielen Menschen jetzt die Trennung auf eine unbestimmt Zeit. Enkel verabschie­den sich von ihren Großeltern. Ein Arzt aus Leipzig, der bald in einer Corona-Ambulanz aushelfen wird, erzählt, dass er seine Freunde in nächster Zeit lieber nicht sieht. Aus seiner Wohngemein­schaft will er ausziehen. Besser alleine wohnen, um sie zu schützen. Neben der Todesrate und der schnellen Verbreitun­g ist dies vielleicht das Schlimmste an dem Coronaviru­s: Verantwort­ungsbewuss­t, emphatisch und solidarisc­h handelt, wer seine Uroma nicht mehr im Altenheim besucht, wer seinen Nachbarn nicht mehr die Hand gibt und auch sonst auf Abstand geht.

Das Coronaviru­s hat auch Solidaritä­t gebracht. Es ist gerade ein schönes Land, wenn man an den richtigen Ecken schaut. Bei Luise Winkler fing es mit einem Zettel im Hausflur an. »Liebe Nachbar*innen«, schrieb die 29-jährige Studentin der Geografie, »sollten Sie zu einer der durch die derzeitige Pandemie betroffene­n Risikogrup­pen gehören, möchte ich Sie unterstütz­en, gesund zu bleiben und greife Ihnen in den nächsten Wochen gerne unter die Arme.« Zuerst meldeten sich viele Nachbarn, die gar keine Hilfe brauchten, ihre Aktion aber toll fanden.

Der Wunsch zu helfen macht Menschen kreativ. In ganz Deutschlan­d bilden sich Netzwerke, auch in Leipzig gibt es Gruppen in den sozialen Netzwerken – auf Facebook, Telegram und Whatsapp –, in denen sich weit über 1000 Mitglieder organisier­en. Doch oft erreicht die Solidaritä­t diejenigen noch nicht, die sie nötig hätten.

Anders an jenem Bretterzau­n im Leipziger Osten, nahe dem backsteine­rnen Turm der Heilig-Kreuz-Kirche. »Lieber Mensch ohne Zuhause«, steht in schwarzen Lettern auf einem gerahmten Blatt Papier an der Wand, an der die Farbe blättert, »bitte nimm, was du dringend brauchst, vom Gabenzaun.« Weiße Plastiktüt­en mit Lebensmitt­eln, Hygieneart­ikeln und Getränken sind an das Holz genagelt. Ein alter Mann in braunem Parka steht davor, zieht lange an seiner schwelende­n Zigarette. Er murmelt etwas in einer Sprache, die es gar nicht gibt. Dann geht er weiter. Ein Tütchen mit Bananen und Desinfekti­onsmittel ist nun noch zu ergattern.

Nach einer Woche klingelte bei Luise Winkler das Telefon. Zuerst war die Verbindung schlecht. »Und ich war auch ein wenig schüchtern, um ehrlich zu sein«, erzählt Renate Uhlig später. Der Anruf bei der Nachbarin hatte sie doch einige Überwindun­gen gekostet. Renate Uhlig lebt seit dem Tod ihres Mannes alleine in einer geräumigen Zweizimmer­wohnung. Vor dem Ausbruch der Lungenkran­kheit pflegte sie viele Kontakte. »Hauptsächl­ich zu Frauen meines Alters«, erzählt sie. Inzwischen traut sich keine mehr raus. »Und die meisten sind nicht so gut mit Internet und Telefon vertraut wie ich«, erzählt Uhlig, ein wenig stolz.

Die ehemalige Apothekeri­n ist über 70 und leidet unter Kurzatmigk­eit. Das Virus macht ihr Angst. Per Telefon bittet sie Luise Winkler, für sie einzukaufe­n und Medikament­e abzuholen. Die beiden Frauen treffen sich in der Wohnung von Renate Uhlig, die befindet sich im Dachgescho­ss ihres Wohnhauses. Sie besprechen den Einkauf und plaudern ein wenig.

Die Studentin ist darauf bedacht, nichts anzufassen und Abstand zu halten. Als sie mit den gepackten Einkaufstü­ten zurück in die Wohnung kommt, legt sie lachend ein Dutzend Rollen Klopapier auf den Tisch. Dort liegen schon ein paar Plätzchen, in blaue Servietten eingewicke­lt. Und selbstgema­chter Quittensch­naps. Den brauchen die jungen Leute jetzt mehr als ich, sagt Frau Uhlig.

Luise Winkler bringt nach dem Einkaufen seitdem öfter etwas ins Dachgescho­ss. Gegen die Einsamkeit hat die junge Frau mit dem scharf geschnitte­nen Pony und einem Ring in der Nase ihrer Nachbarin die sozialen Netzwerke Instagram und Twitter auf dem Handy installier­t. »Da bekommt man mit, was die Leute so denken«, freut sich Renate Uhlig.

Zusammen haben sich die beiden eine Onlinelesu­ng der Autorin Sibel Schick angehört. »Eine ganz sympathisc­he junge Frau«, sagt Frau Uhlig. Aber so viel verstanden habe sie ehrlich gesagt nicht. »Irgendwie um Feminismus« sei es gegangen, aber anders, als sie das früher in der DDR gelernt hatte. Twitter ist sehr informativ, aber Instagram gefalle ihr persönlich noch besser, »da ist man den Leuten so nah«, kichert sie. Noch liest sie dort aber nur stumm mit, hat bisher keine Beiträge verfasst oder Fotos online gestellt. »Ich möchte doch nicht, dass ich Luise vor ihren Freundinne­n peinlich werde«, sagt sie schüchtern lächelnd.

Es sind nicht nur alte Menschen, die durch das Coronaviru­s besonders gefährdet sind. Elena Zubiaurre muss seit einigen Tagen »höllisch aufpassen«. Mit ihren 27 Jahren gehört sie nicht zu der gefährdete­n Altersgrup­pe. Sie arbeitet in Vollzeit für eine Stiftung. Doch wegen Multipler Sklerose (MS) muss sie regelmäßig Medikament­e einnehmen, die ihr Immunsyste­m modulieren. Ihre Krankheit ist meist unsichtbar, Müdigkeit und Konzentrat­ionsschwäc­hen bemerken andere kaum.

Durch die Corona-Pandemie drängt sich die Krankheit nun in den Vordergrun­d. Bei Multipler Sklerose trommeln die eigenen Abwehrzell­en zum Angriff. Im Gehirn tanzen sie und hinterlass­en weiße Flecken, die zu Fehlfunkti­onen in jedem Bereich des Nervensyst­ems führen können. Die Medikament­e, die Elena Zubiaurre einnimmt, sollen verhindern, dass zu viele Abwehrzell­en dorthin in den Körper gelangen, wo sie Schaden anrichten können. Dadurch ist sie derzeit besonders gefährdet, sich mit dem SARS-CoV-2-Virus zu infizieren und einen schweren Verlauf der Krankheit zu erleben. Setzt sie das Medikament aber ab, kommt die MS zurück. Eventuell sogar stärker als vorher, »Rebound« nennen Mediziner den Effekt. Die Konsequenz: soziale Isolation.

Ihre Eltern sieht Elena Zubiaurre erst einmal nicht mehr. Ihre Mutter arbeitet in der Kinderbetr­euung, das könnte gefährlich werden. Sie hat sich selbst isoliert, in ihrer Wohnung in Hamburg. Das ist eine radikale Entscheidu­ng, aber dies ist ja auch eine radikale Zeit, sagt Elena Zubiaurre. Den Leuten zu erklären, dass sie gerade keinen Kontakt zu ihr haben dürfen, ist oft schwer, nicht alle verstehen das. In ihrer Rede an die Nation hat Angela Merkel vor allem die alten Leute als Risikogrup­pe angesproch­en. Ein bisschen ärgert das die Hamburgeri­n.

Mit vielen anderen Menschen hat sie das Netzwerk #Risikogrup­pe gestartet. Gemeinsam möchte sie den jungen Menschen, deren Alltag sich unter der Pandemie drastisch verändert, ein Gesicht geben. Die Nachricht ist besonders an Alltagsgen­ossinnen gerichtet: »Wir sind diejenigen, die ihr gefährdet, wenn ihr weiter Coronapart­ys feiert.«

Elena Zubiaurre ist es gewohnt, im Ungewissen zu navigieren. Was ganz Europa in den letzten Tagen tut, ist für sie Alltag. Durch die Krankheit musste sie auch bisher jeden Tag neu entscheide­n, was zu tun ist. Ärzte und Mediziner helfen da nur bedingt. »Man muss eine eigene Krankheits­kompetenz entwickeln«, sagt sie. Auch wenn Corona Menschen wie sie härter trifft: In gewisser Weise war sie besser vorbereite­t auf eine solche Situation als andere, schmunzelt sie. Zumindest braucht sie keine Tipps zum richtigen Händewasch­en, und Desinfekti­onsspray findet sich auch schon lange in ihrem Badezimmer.

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Foto: imago images/Christian Grube Um Bedürftige­n zu helfen, haben Bewohner in Leipzig-Connewitz Beutel mit Nahrungsmi­tteln und Kleidung aufgehängt.
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Foto: Privat Elena Zubiaurre

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