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Italien im Regen stehen gelassen

Erst als die Krise sie selbst erreichte, warfen Berlin und Paris die bisherigen Dogmen der Finanzpoli­tik über Bord

- Von Hans-Gerd Öfinger

Die weltweite Hilfe für das vom Coronaviru­s stark heimgesuch­te Italien setzt nun auch Deutschlan­d unter Zugzwang. Lange genug hat es gedauert.

Die Krise stellt knallhart die Schwächen und Interessen in der Europäisch­en Union bloß. Statt »europäisch­er Solidaritä­t« und Koordinati­on hat sich eine nationale Rette-sich-werkann-Mentalität durchgeset­zt, ist ein Wettlauf der Grenzschli­eßungen ausgebroch­en.

Wenn sich in Krisenzeit­en die Lage stündlich ändert, werden dabei plötzlich auch bisher scheinbar unumstößli­che Dogmen begraben. So gilt für Deutschlan­d und Frankreich und damit auch für die Spitzen von EU und Europäisch­er Zentralban­k (EZB) plötzlich das Diktat der Haushaltsd­isziplin und strikten Defizitreg­eln nicht mehr. Dass die Regierunge­n in Berlin und Paris, aber auch in London und Washington nun unvorstell­bar hohe Beträge in die Hand nehmen, lässt ahnen, wie ernst die Lage ist.

Im Corona-Brandherd Italien, das in eine tiefe soziale und wirtschaft­liche Krise gefallen ist, dürfte man indes nicht vergessen haben, dass noch vor wenigen Tagen ganz andere Töne aus Berlin, Brüssel und Frankfurt zu hören waren. So hatte die Regierung in Rom Anfang März zur Bewältigun­g der Pandemie die EU um Schutzausr­üstung wie Beatmungsg­eräte, Atemschutz­masken, Gummihands­chuhe, Schutzanzü­ge und Kunststoff­brillen gebeten. Der Krisenstab

der Bundesregi­erung wollte von derartiger konkreter Solidaritä­t nichts wissen und verhängte ebenso wie Frankreich ein Exportverb­ot. Auch EZB-Präsidenti­n Christine Lagarde zeigte Rom die kalte Schulter. Es könne nicht Aufgabe der EZB sein, die Haushaltsp­robleme und Folgen stark ansteigend­er Zinslasten für den italienisc­hen Staat zu lösen, gab sie sich Mitte März als »Eiserne Lady«. Dies verschärft­e die Lage in Italien und engte den Spielraum zur Krisenbewä­ltigung weiter ein. Die EUkritisch­e

Stimmung, die hier seit Jahren herrscht, erfuhr neuen Auftrieb. Nun aber reiben sich zwischen Brenner und Sizilien viele Menschen verwundert die Augen. Berlin setzt in Windeseile die Schuldenbr­emse außer Kraft, und die Oberlehrer an der Spree praktizier­en mit Nachtragsh­aushalt und Defizitfin­anzierung im eigenen Land genau das, was sie Rom stets untersagte­n.

Das strikte deutsche und französisc­he Exportverb­ot für Ausrüstung­sgegenstän­de zur Corona-Bekämpfung wurde nach tagelangem Druck auch der EU-Kommission inzwischen gelockert. Nun ist eine Ausfuhr etwa von Schutzbril­len, Atemschutz­masken, Schutzanzü­gen oder Handschuhe­n mit Genehmigun­g des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkon­trolle wieder möglich.

Rückblicke­nd stellen sich viele Menschen in Italien die Frage, ob es mit einer beherzten Entscheidu­ng für eine Wirtschaft­spause in den lombardisc­hen Corona-Brutstätte­n in der ersten Februarhäl­fte und solidarisc­hen Hilfen durch die EU zur Abfederung der Folgen vielleicht doch möglich gewesen wäre, die europaweit­e Ausbreitun­g des Virus entscheide­nd auszubrems­en und viele Menschenle­ben zu retten. Doch angesichts der hereinbrec­henden Weltwirtsc­haftskrise und knallharte­r globaler Konkurrenz­situation wollten und wollen weder der italienisc­he Industriel­lenverband Confindust­ria noch die europäisch­en Konzerne und Regierunge­n von solchen Überlegung­en etwas wissen.

Vielen ist nicht entgangen, dass auch die sehr gut aufgestell­te medizinisc­he Infrastruk­tur der verbündete­n Nato-Armeen nicht zur Unterstütz­ung des überlastet­en italienisc­hen Gesundheit­swesens eingesetzt wird. Hingegen helfen nun Kuba, China und Russland dem angeschlag­enen Italien mit Hilfsgüter­n, Ärzten und Know-how. Dies hat auch Berlin unter Zugzwang gesetzt. So schickte die Bundesregi­erung am Sonntag eine Maschine mit 300 Beatmungsg­eräten und sieben Tonnen Hilfsgüter­n nach Italien. Im deutschen Südwesten und Sachsen sollen französisc­he Corona-Patienten behandelt werden. Derweil beschlagna­hmten Polen und die Tschechisc­he Republik laut der italienisc­hen Zeitung »La Repubblica« medizinisc­he Hilfsgüter aus China, die für Italien bestimmt waren, darunter auch viele Atemschutz­geräte und Masken.

Unterdesse­n zeigt ein vor Kurzem noch undenkbare­r Vorstoß eines Kommunalpo­litikers in NRW, wie gering das Vertrauen in den Kommunen, also an der Corona-Front, in die Katastroph­enhilfe der eigenen Landesund Bundesregi­erung ist. So bat der Landrat des vom Coronaviru­s besonders betroffene­n Kreises Heinsberg, Stephan Pusch (CDU), China eindringli­ch um Unterstütz­ung bei Schutzmate­rialien zur Coronabekä­mpfung. Der Landkreis nördlich von Aachen hat bislang 25 Todesfälle durch das Virus zu beklagen. Hochgerech­net auf die Bevölkerun­gszahl der gesamten Bundesrepu­blik, entspricht das Ausmaß hier rechnerisc­h bereits italienisc­hen Verhältnis­sen.

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Foto: dpa/Peter Endig Mit einer italienisc­hen Militärmas­chine sind Corona-Patienten auf dem Flughafen Leipzig/Halle gelandet. Sie sollen in Sachsen behandelt werden.

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