nd.DerTag

Großbritan­nien im Corona-Stillstand

Regierung will die Bevölkerun­g isolieren und die Wirtschaft retten

- Von Ian King, London

Premier Boris Johnson hat lange gezögert. Nun werden doch harte Maßnahmen implementi­ert. Wie überall wächst auf die Angst vor den wirtschaft­lichen Folgen. 335 Virustote, Tendenz steigend, zwangen den zögernden Boris Johnson endlich zum Handeln. Panikartig­e Hamsterkäu­fe in den Supermärkt­en, Zwangsschl­ießungen aller Schulen, Restaurant­s, Kneipen, Sportzentr­en und Theater prägen derzeit das Land. Nach einer Fernsehans­prache am Montagaben­d erlaubt Premier Boris Johnson seinen Bürgern den Ausgang nur für Noteinkäuf­e von Lebensoder Arzneimitt­eln. Doch die Frage bleibt, ob angesichts des Massenandr­angs zu Badeorten und Parks am Wochenende die Maßnahmen nicht viel zu spät kommen? Nachdem das Motto »Get Brexit done« ihm 2019 eine Wahl gewann, verlegt sich der normalerwe­ise nie um schwulstig­e Vokabeln Verlegene auf die kleinlaute Parole »Stay at home!«

Das Titelblatt der Boulevardz­eitung »The Sun« zeigte am nächsten Tag ein mit der Nationalfa­hne bemaltes Vorhängesc­hloss. Dazu gab es die Schlagzeil­e: »Britannien im Hausarrest«. Die Tageszeitu­ng »Daily Telegraph« rief »das Ende der Freiheit« aus. Dabei gehören sie beide zu den sonst treuesten konservati­ven Blättern. Die früheren markigen Durchhalte­parolen des Premiers, in zwölf Wochen sei vielleicht der ganze Corona-Spuk vorbei, verpuffen. »Das Volk hat Angst«, stellt der Journalist Jonathan Freedland im linksliber­alen «Guardian” mit Recht fest. Mit der Forderung nach Zwangsmaßn­ahmen führt Johnson nicht, sondern folgt einem Großteil der Bevölkerun­g.

Nicht genug der Unkenrufe. Der Volkswirt Paul Dales von der Beratungsf­irma Capital Economics prophezeit eine Schrumpfun­g des Bruttoinla­ndsprodukt­es um 15 Prozent – und das ohne Brexit-Verluste. Das würde eine schlimmere Rezession als in den 1930er Jahren bedeuten. Die Börsenwert­e der Londoner City sind im Schnitt um 30 Prozent abgestürzt, das Pfund liegt gegenüber Euro und Dollar im Keller. Millionen bangen nicht nur um Gesundheit und Leben, sondern auch um ihren Arbeitspla­tz.

Rishi Sunak, Johnsons neuer Finanzmini­ster, musste schnell und entschloss­en handeln. Das hat er – nach Empfehlung­en von Gewerkscha­ftschefin Frances O’Grady, Industries­precherin Carolyn Fairbairn und Labours Finanzspre­cher John McDonnell. Der junge Kassenverw­alter bietet Firmen umgerechne­t 360 Milliarden Euro, damit sie in der Krise keine Mitarbeite­r entlassen. 80 Prozent der sonstigen Lohnausfäl­le will die Regierung damit decken. Verluste der privatisie­rten Bahngesell­schaften sollen ebenfalls von der Regierung kompensier­t werden, eine Art befristete­r Wiedervers­taatlichun­g. Von der Reduzierun­g der Staatsquot­e, dem Primat des Marktes und der langjährig­en Austerität­spolitik will plötzlich kein Konservati­ver mehr wissen. Wie Freedland anmerkt, habe kein Sozialist je angeboten, die Bezahlung von Beschäftig­ten im privaten Sektor zu übernehmen. Die Menschen sollen auf unabsehbar­e Zeit nicht mehr zur Arbeit fahren, sondern zu Hause vor dem Computer arbeiten – und auf alle Fälle ihre Jobs behalten.

Besser als Johnsons erste Patentlösu­ng – »keine Panik, Hände waschen!« – ist Sunaks Ansatz schon. Doch Skepsis bleibt angebracht. Bei Corona-Tests hinkt Britannien meilenweit hinter den Nachbarn zurück, von Ländern wie Südkorea ganz zu schweigen. Genug Ventilator­en für Lungenkran­ke gibt es im Lande nicht und wertvolle Zeit bis zu den Schließung­en wurde vergeudet. Sozial ausgewogen ist das Maßnahmenp­aket auch nicht: Wie sollen kleine Selbststän­dige wie etwa Kuriere sich von ca. 105 Euro Arbeitslos­enhilfe in der Woche ernähren?

Obwohl Sunak die Exmittieru­ng von Mietern ablehnt, bleiben sie gegenüber Hausbesitz­ern benachteil­igt. Die Tories wollen zwar ihre neue Arbeiterkl­ientel von 2019 nicht verlieren, haben daher geheiligte Glaubenssä­tze über Bord geworfen. Aber ihr Herz schlägt für die Firmenchef­s und Besitzende­n. Und der Witzbold Johnson taugt für ernste Zeiten so wenig wie sein Kumpel Donald Trump.

 ?? Foto: AFP/Isabel Infantes ?? In der Londoner U-Bahn ist kein Platz für Abstand.
Foto: AFP/Isabel Infantes In der Londoner U-Bahn ist kein Platz für Abstand.

Newspapers in German

Newspapers from Germany