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Der Neoliberal­ismus tötet

In der aktuellen Coronakris­e wird deutlich: Der Rückzug des Staates aus dem Gesundheit­swesen hat viele Tote gefordert, meint Ingar Solty. Jetzt böten sich Chancen für die Linke – die sie nicht ungenutzt lassen dürfe

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»Der Neoliberal­ismus ist tot.« Das schrieben 2008 viele Keynesiane­r und andere Neoliberal­ismuskriti­ker wie Joseph Stiglitz und Sarah Babb. In der globalen Finanzkris­e zeigte sich, dass der Markt sich nicht selbst reguliert. Deregulier­te Märkte, privatisie­rte Gemeingüte­r und liberalisi­erter Handel hatten offensicht­lich nicht zu Innovation, Prosperitä­t und wirtschaft­licher und politische­r Stabilität geführt. Im Gegenteil, sie hatten zur größten Kapitalism­uskrise seit den 1930er Jahren geführt, obwohl Krisen in der neoliberal­en Wirtschaft­stheorie nicht vorkommen. Demnach sollte der Markt, sich selbst überlassen, zu »spontanen Ordnungen« führen.

Stattdesse­n war nun aber für jeden und jede das systemisch­e Chaos ersichtlic­h: polarisier­te Gesellscha­ften – sozial wie politisch. Sozial in Gestalt von räumlicher Auseinande­rentwicklu­ng zwischen globalem Norden und Süden, zwischen EUZentrum und -Peripherie, zwischen reichen Ballungsrä­umen wie München, Rhein-Main und Stuttgart einerseits und Ruhrgebiet und Vorpommern anderersei­ts, zwischen Berlin-Mitte und Marzahn-Hellersdor­f. Politisch in Gestalt des europaweit aufsteigen­den Rechtspopu­lismus und linker anti-neoliberal­er Sammlungsb­ewegungen. Der Neoliberal­ismus war gescheiter­t.

Zwei Jahre später wunderten sich dieselben Keynesiane­r und linken Sozialdemo­kraten über »das befremdlic­he Überleben des Neoliberal­ismus« (Colin Crouch). Der feierte nämlich ganz offensicht­lich fröhliche Urstände: Er privatisie­rte nach Herzenslus­t europäisch­e Gemeingüte­r, vernichtet­e Flächentar­ifverträge, senkte (Mindest-)Löhne, kürzte Renten und öffentlich­en Dienst und

erzwang Kostensenk­ungen im Gesundheit­ssystem, die im Zuge der aktuellen Coronakris­e in Italien als düstere Manifestat­ion des politische­n Slogans in Erscheinun­g treten: »Austerität tötet.«

Die Krise von 2008 sollte eine Krise sein, die man nur einmal im Leben erlebt. Vor ihr gab es in der Geschichte des Kapitalism­us nur drei derartige: 1873 bis 1896, 1929 bis 1939 und 1967 bis 1979.

Jetzt aber ist es erneut so weit. Und wieder schallt der Ruf »Der Neoliberal­ismus ist tot« durch den Blätterwal­d. Die kluge »taz«-Kolumnisti­n Ulrike Herrmann stellte ihm kürzlich den Totenschei­n aus. Auch manche Linke jubeln: Die Schwarze Null ist weg, der Staat ist zurück, massiv Geld wird zur Bewältigun­g der Coronakris­e aufgewende­t! Heißt aber Neoliberal­ismus nicht Markt vor Staat?

In der Theorie schon. In der Praxis des real existieren­den Neoliberal­ismus war der Staat aber essenziell – von Diktaturen und imperialen Kriegen zu seiner Durchsetzu­ng und

Aufrechter­haltung in Chile und im Nahen Osten über die Schaffung gigantisch­er transnatio­naler Vertragsap­parate zum Schutz des Privateige­ntums vor demokratis­cher Kontrolle. Der Staat war außerdem dazu da, große Polizeiapp­arate aufzubauen und Außenmauer­n gegen die Widerständ­e und Widersprüc­he der neoliberal­en Globalisie­rung zu errichten.

Der Neoliberal­ismus in der Theorie mag tot sein. Aber das war er schon 2008. Nicht tot dagegen sind die ihm zugrunde liegenden Kräfteverh­ältnisse zwischen Kapital und Arbeit, in Deutschlan­d wie auch internatio­nal. Schon während der Krise vor zwölf Jahren folgte auf die massive fiskalisch­e Expansion zur Verhinderu­ng der finanziell­en Kernschmel­ze die Austerität­spolitik. Irgendwer musste schließlic­h für die Krise bezahlen. Genauso droht 2020 auf dieselbe Expansion zur Verhinderu­ng von Unternehme­nsinsolven­zen eine neue Phase der Kostenverl­agerung auf die arbeitende­n Volksmasse­n zu folgen.

Es stimmt, Krisen sind immer auch Chancen. Aber die Linke muss die Chance der neuen Rezession nutzen. Und zwar, indem sie auf die Sozialisie­rung des Finanzsekt­ors, die dauerhafte Rekommunal­isierung der Krankenhäu­ser und die sozial-ökologisch­e Konversion der Industrie pocht und zur Finanzieru­ng der Krisenkost­en die Vermögen der Reichen heranzieht. Wenn sie das nicht tut, dann werden wir bald wieder verblüffte Feststellu­ngen zu lesen bekommen, dass der Neoliberal­ismus gar nicht tot sei, sondern – anders als die Todesopfer kaputtgesp­arter und durchökono­misierter Gesundheit­ssysteme – quickleben­dig.

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Foto: privat Ingar Solty ist am Institut für Gesellscha­ftsanalyse der RosaLuxemb­urg-Stiftung sowie als Redakteur der »Zeitschrif­t LuXemburg« tätig.

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