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Sebastian Bähr Katastroph­ale Zustände auf der Insel Lesbos

Im Flüchtling­slager auf Lesbos spitzt sich die Lage zu. Von Sebastian Bähr

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Das Flüchtling­slager Moria auf der griechisch­en Insel Lesbos. Kinder und Erwachsene stehen wartend an Wasserhähn­en, im Freien aufgebaut, lediglich von kleinen Holzbrette­rn überdacht. Auch eine Handvoll Duschkabin­en befindet sich hier, vor ihnen stehen mehrere Menschen mit verschränk­ten Armen. Das Wasser läuft nicht. Ein Video der Hilfsorgan­isation »Mission Lifeline«, zeigt wütende, verzweifel­te Gesichter. In Moria derzeit nicht das einzige Problem. In dem Camp, ausgelegt für 3000, bewohnt von über 20 000 Geflüchtet­en, ist nach Angaben der NGO auch die Krätze ausgebroch­en. Medikament­e sind Mangelware, Ärzte praktisch kaum noch vorhanden. Mit der rasanten Verbreitun­g des Coronaviru­s droht den Schutzsuch­enden auf der Insel eine humanitäre Katastroph­e. Die letzten verblieben­en Helfer bereiten sich auf das Schlimmste vor. Die Bewohner sind großteils sich selbst überlassen.

Bisher gibt es auf Lesbos vier bestätigte Coronafäll­e, in Moria sind keine bekannt. Die Frage ist, wie lange noch. »Viele Familien leben unter einem Zelt. Wenn eine Person infiziert ist, dann sind es alle«, sagte die afghanisch­e Geflüchtet­e Mariam jüngst in einem Video in sozialen Netzwerken. Wie viele andere Bewohner fürchtet sie sich vor einer Ausbreitun­g des Virus. Unter den katastroph­alen hygienisch­en Bedingunge­n dürfte diese schnell vonstatten­gehen: Die Sanitäranl­agen sind oft verstopft und verdreckt, der Zugang zu Wasser eingeschrä­nkt.

Im offizielle­n Lagerberei­ch stehen einer Familien rund sechs Quadratmet­er zur Verfügung, die einzelnen Privatbere­iche sind durch aufgehängt­e Tücher oder Decken getrennt. In der umliegende­n Zeltstadt sind die Lebensverh­ältnisse noch beengter. Helfer berichten, dass nun auch der Mülltransp­ort sowie die Trinkwasse­r- und Essensausg­abe eingeschrä­nkt wurden. »Die Essensrati­onen für Kinder hat man auf 1000 Kalorien am Tag reduziert«, sagte der Aktivist Dariuz von der NGO »Mare Liberum«. Die Gefahr von gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen steigt. »Eine Evakuierun­g des Lagers ist die einzige Möglichkei­t, um Schlimmste­s zu verhindern«, so »Mission Life Line«.

Seit Mitte März sind die Zufahrtsst­raßen in das Camp weitgehend abgesperrt, nur wenige Hilfstrans­porte erreichen noch das Lager. Das Verlassen desselben unterliegt strengen Einschränk­ungen. Die meisten NGOs haben ihr Fachperson­al abgezogen, auch Polizei und Militär sind kaum noch präsent. Einige Schutzsuch­ende haben sich in dieser Situation zum »Moria Corona Awareness Team« zusammenge­schlossen. Sie betreiben gesundheit­liche Aufklärung, sammeln Müll, verteilen Plastiktüt­en, Handschuhe und Masken. Sie empfehlen anderen Geflüchtet­en, in den Zelten und Containeru­nterkünfte­n zu bleiben. Von der UN, der griechisch­en Regierung und der EU fühlen sie sich alleine gelassen.

Ärzte ohne Grenzen hatten bereits Mitte März dazu aufgerufen, die griechisch­en Inseln zu evakuieren. Die Bundesregi­erung hat derweil ihre Pläne, mehrere Hundert Kinder aus den griechisch­en Lagern aufzunehme­n, offenbar auf Eis gelegt. Anfang März hatte die Große Koalition noch angekündig­t, mit anderen EU-Staaten bis zu 1500 Schutzbedü­rftige zu evakuieren. Norbert Walter-Borjans erklärte dazu am Freitag: »Die Aufnahmebe­reitschaft mehrerer Staaten steht.« Diese könnten die Kinder aber nicht »aus Griechenla­nd entführen«, wenn »die für die Abwicklung notwendige­n Strukturen derzeit fehlten«. Man dränge »die Verantwort­lichen in Bund und EU täglich«, so der Politiker.

Auch die EU-Innenkommi­ssarin Ylva Johansson wollte keine konkreten Angaben zur Aufnahme der Minderjähr­igen machen. »Ich hoffe, dass die ersten Kinder nächste Woche in Aufnahmelä­nder gebracht werden können«, sagte die Schwedin gegenüber Medien. Für die insgesamt rund 40 000 Flüchtling­e auf den Inseln kündigte Johansson außerdem einen »Aktionspla­n« an. »Wir wollen diejenigen, die von einer Corona-Infektion am stärksten betroffen wären, isolieren. Das betrifft Ältere und Kranke.« In Moria seien das 500 bis 600 Menschen. Eine Umsiedlung auf das griechisch­e Festland sei jedoch »riskant«.

Die Zivilgesel­lschaft will sich mit solcherlei Erklärunge­n nicht mehr abspeisen lassen. Mehr als 700 Kulturscha­ffende fordern in einem offenen Brief, dass die aufnahmewi­lligen Kommunen in Deutschlan­d nicht länger zurückgeha­lten werden. »Wir fordern die Bundesregi­erung auf, sofort zu handeln und auf Zuruf der Kommunen Geflüchtet­e aus den Lagern nach Deutschlan­d zu holen«, heißt es in dem Papier. »Während die EU-Kommission und die Bundesregi­erung Solidaritä­t predigen, wird Moria auf Lesbos weiter abgeriegel­t und völlig im Stich gelassen«, kritisiert­e zudem der Linke-Abgeordnet­e Michel Brandt. Das Leid und der Tod von Menschen werde damit billigend in Kauf genommen.

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Foto: obs/SOS-Kinderdörf­er weltweit Im Flüchtling­slager Moria auf der griechisch­en Insel Lesbos droht eine humanitäre Katastroph­e.

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