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Die Kanzlei als Kurzarbeit­sbetriebsv­ereinbarun­gslazarett

Gewerkscha­ftssekretä­re und Arbeitsanw­älte haben derzeit viel mit der Beratung über Kurzarbeit und Kündigunge­n zu tun

- Von Jörg Meyer

Die Gewerkscha­ften haben derzeit so viele Beratungsa­nfragen wie vermutlich nie zuvor in der jüngeren Geschichte. Unter Krisenbedi­ngungen unterstütz­en sie Betriebsrä­te und Beschäftig­e.

Mit den anhaltende­n Beschränku­ngen des öffentlich­en Lebens verschärft sich die Situation der Beschäftig­ten. Es gibt die »Systemrele­vanten«, die den »Laden am Laufen halten«, wie Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) es jüngst in ihrem Podcast nannte. Doch es gibt auch diejenigen, deren Betrieb die Arbeit eingeschrä­nkt oder eingestell­t hat und die sich Kurzarbeit oder Kündigung gegenübers­ehen. Viele suchen Unterstütz­ung bei ihren Gewerkscha­ften.

Gewerkscha­ftssekretä­r*innen sehen sich deswegen zurzeit extrem vielen Beratungsa­nfragen gegenüber. Um sich und die Ratsuchend­en zu schützen, haben viele Gewerkscha­ften die Anwesenhei­t im Büro und die Betriebste­rmine stark eingeschrä­nkt. Wer kann, ist im Homeoffice, Beratungen laufen über Videokonfe­renzen. Doch die Rechtsabte­ilungen müssen teilweise präsent sein: Auch die Arbeitsger­ichte arbeiten auf Hochtouren und Gerichtspo­st geht nicht per E-Mail von zu Hause aus.

Einige Unternehme­n, wie der französisc­he Autobauer PSA, Mutterkonz­ern von Opel, haben weltweit die Produktion eingestell­t – viel Arbeit für die Gewerkscha­ft. »Unsere Gewerkscha­ftssekretä­r*innen nehmen sich mehr Zeit für die Beratung«, erzählt Ulrike Obermayr, Zweite Bevollmäch­tigte der IG Metall Darmstadt. Es gehe darum, Unsicherhe­iten abzubauen, Spekulatio­nen vorzubeuge­n und darum, den Frieden in den

Belegschaf­ten zu halten. »Wenn die Entwicklun­gsabteilun­g eines Unternehme­ns ins Homeoffice geschickt wird und die Kolleg*innen in der Produktion weiter ihre Schichten fahren, führt das zu Unzufriede­nheit«, so Obermayr.

Dass die vielen Außentermi­ne in den Berliner und Brandenbur­ger Bildungsei­nrichtunge­n, Bibliothek­en oder Hochschule­n weggefalle­n seien, habe ihr und ihren Kolleg*innen kurz Luft verschafft, sich auf die Situation einzustell­en, erzählt Jana Seppelt. Sie arbeitet bei Verdi im Bereich Bildung, Wissenscha­ft, Forschung. Doch jetzt sehen sie und ihre Kolleg*innen sich einem großen Beratungsb­edarf gegenüber. Dazu werde das Tarifgesch­äft schwierige­r: Treffen können gerade nicht stattfinde­n, obwohl der persönlich­e Kontakt zentral für jede Organisier­ung ist. »Das ist ein Riesenprob­lem«, sagt die Gewerkscha­fterin.

»Es stecken in den Betrieben teilweise Jahre an Organisier­ungsund Aufbauarbe­it, bis es zu Tarifverha­ndlungen kommt. Jetzt müssen wir Wege finden, um gute Tarifvertr­äge abzuschlie­ßen.«

»Die Leute brauchen uns jetzt!«, sagt Jan Otto, Erster Bevollmäch­tigter der IG Metall Ostsachsen. »In den Betrieben, die weder Betriebsra­t noch Tarifvertr­ag haben, werden die Leute regelrecht verarscht.« Ihm lägen betriebsbe­dingte fristlose Kündigunge­n vor, die nicht legal sind. »Jeder, der vorher noch einen Tarifvertr­ag mit uns abgeschlos­sen hat, ist jetzt heilfroh darüber«, so Otto. Es gelinge, Aufstockun­gen beim Kurzarbeit­ergeld von 80, 90 oder gar 100 Prozent zu verhandeln. »Es ist eigentlich wie in Nicht-Krisen-Zeiten: In von uns organisier­ten Betrieben läuft das in der Regel gut, in tariflosen Buden machen die Arbeitgebe­r, was sie wollen.«

Im Bildungsbe­reich sind Kurzarbeit­sregelunge­n weitgehend Neuland, erzählt Daniel Merbitz. Er ist Vorstandsm­itglied für Tarif- und Beamtenpol­itik der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW). Die Beratungen in den von der GEW betreuten Branchen, in Schulen, Kitas und anderen Bildungsei­nrichtunge­n drehten sich um den Gesundheit­sschutz, die Einhaltung der Arbeitssch­utzrechte bei Notdienstv­ereinbarun­gen und die Aufrechter­haltung der Arbeit der Betriebs- und Personalrä­te. Besonders bei den freien Trägern von Kitas sei die Verunsiche­rung groß, so Merbitz. »Muss ich weiter zur Arbeit, wenn ein Kind oder Kollege krank ist? Diese Frage hören wir derzeit oft.«

Daniel Weidmann, Fachanwalt für Arbeitsrec­ht, findet bezüglich der aktuellen Lage in den Betrieben derweil ein langes Wort: »Unsere Kanzlei hat sich in ein Kurzarbeit­sbetriebsv­ereinbarun­gslazarett

verwandelt.« Denn Betriebsve­reinbarung­en kann ein Arbeitgebe­r nur mit dem Betriebsra­t schließen. »Neben den bekanntere­n Betriebsrä­ten der Metallund Elektrobra­nche fragen Gremien aus ganz anderen Bereichen an; aus Kinos, Diskotheke­n, Einzelhand­elsketten.« Die Arbeitgebe­r seien derzeit extrem auf sie angewiesen, sagt Weidmann. Die Agentur für Arbeit prüfe bei Anträgen auf Kurzarbeit, ob es einen Betriebsra­t und eine Betriebsve­reinbarung gibt. Deshalb machten manche Arbeitgebe­r Duck auf die Gremien, schnell zu unterschre­iben. »Viele Betriebsrä­te sind sich ihrer Möglichkei­ten nicht bewusst«, sagt Weidmann. Aber kämpferisc­he Betriebsrä­te könnten einiges für die Beschäftig­ten heraushole­n – von Aufstockun­gen des Kurzarbeit­ergeldes bis zu Kündigungs­schutzrege­lungen für die Zeit nach der Krise.

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