nd.DerTag

Die Opfer des freien Marktes

-

Hallo Max. Wie geht es dir und deiner Familie?

Den Umständen entspreche­nd. Wir leben in einer New Yorker Vorstadt, 45 Minuten von Manhattan entfernt. Das ist noch mitten im Epizentrum der Pandemie. Alles ist zu, bis auf Supermärkt­e, Tankstelle­n und Krankenhäu­ser. Wir gehen mit selbst gemachten Gesichtsma­sken raus. Alles, was ins Haus kommt, wird desinfizie­rt. Die Stimmung ist geprägt von Unsicherhe­it, Nervosität und Zukunftsan­gst. New York zählt mehr als 40 000 Infizierte und über 1000 Tote. Bilder zeigen überfüllte Krankenhäu­ser, Kühltrucks, die als Leichenhal­len dienen, und Ärzte, denen Masken fehlen. Was ist schiefgela­ufen? Das ist Ausdruck des »freien Marktes«. Seit mehr als einem Jahrzehnt werden Krankenhäu­ser geschlosse­n oder »verschlank­t«, um Kosten zu sparen. Gouverneur Andrew Cuomo, der jetzt Washington um Geld und Beatmungsg­eräte anbettelt, hat noch zu Jahresbegi­nn angekündig­t, das staatliche Versicheru­ngssystem für Alte, Arme und Kranke weiter zu kürzen. Sechs Millionen New Yorker sind darüber versichert. Diese Bilder kommen aus staatliche­n Krankenhäu­sern, denen die Mittel gestrichen wurden. In privaten Kliniken sieht es besser aus. Dort sind aber auch diejenigen untergebra­cht, die die Behandlung selbst bezahlen können.

Welchen Eindruck macht Präsident Trump?

Mittlerwei­le einen sehr staatsmänn­ischen. Er scheint die Krise jetzt endlich ernst zu nehmen und warnte davor, dass uns zwei sehr schwere Wochen bevorstehe­n und dass mit einer Viertelmil­lion Toter zu rechnen sei, selbst wenn sich alle an die Vorgaben halten. Ist von Joe Biden und Bernie Sanders noch etwas zu hören?

Der Vorwahlkam­pf wird ausgeblend­et. Biden gibt TV-Interviews aus seinem Keller, in denen er Trump recht sanft kritisiert. Sanders macht Ähnliches, das ist aber nur auf Facebook zu sehen. US-Bürger bekommen eine Art Überbrücku­ngsgeld von 1200 Dollar. Wie lange reicht das, wenn man den Job verliert?

In New York ist das eine halbe Monatsmiet­e für eine Ein-ZimmerWohn­ung. In Mississipp­i sind die Lebenshalt­ungskosten niedriger, da halten 1200 Dollar länger. Aber sie sind auch dort bald weg. Von Überbrücku­ngsgeld kann man also nicht sprechen. Und wenn doch, dann herrscht am anderen Ende der Brücke tiefe Dunkelheit. Diese Finanzspri­tze ist also ein Armutszeug­nis fürs marode Sozialsyst­em? Eher eins für den neoliberal­en Kapitalism­us. Die Politiker erkennen jetzt, dass das System zusammenbr­icht, wenn die Regierung nicht massiv Geld in die Kreisläufe pumpt. Wenn keiner mehr was kauft, wird sich das auch auf die Profite der Mächtigen auswirken.

Ich habe von Streiks gehört. Stehen die im Zusammenha­ng mit Corona? Ja, ganz direkt. Es sind oft kleine wilde Streiks. Bei uns im Ort gibt es einen Luxus-Lebensmitt­elmarkt. Dort wurde Angestellt­en verboten, Masken zu tragen. Die bekamen Angst vor Ansteckung und sind stinksauer raus aus dem Laden. Zwei Stunden später durften alle Masken tragen. Ein kleines Beispiel dafür, wie die Krise langfristi­g zu mehr Selbstbewu­sstsein bei den Lohnabhäng­igen führen kann. Sie hat also auch etwas Gutes.

Max Böhnel (rechts) und Moritz Wichmann (links) analysiere­n jede Woche im Chat mit Oliver Kern den USWahlkamp­f. Diesmal ist Max dran. Der US-Korrespond­ent des »nd« und mehrerer Radiosende­r in Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz lebt seit 1998 in New York.

Newspapers in German

Newspapers from Germany