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Hassliebe: Menschlich­e Nähe in kontaktlos­en Zeiten

Inga Dreyer erforscht Formen menschlich­er Nähe in Zeiten des Kontaktver­bots

- Inga Dreyer

Die Kernfamili­e hat Konjunktur. Und das scheinbar nicht aus ideologisc­hen, sondern aus pragmatisc­hen Gründen. Menschen außerhalb der eigenen Familie zu berühren, bringt plötzlich ganz neue moralische Bedenken hervor. Nicht die eigene Ehre steht auf dem Spiel, sondern das gesundheit­liche Wohl der Menschheit. Und wer will das schon gefährden?

Im Kreise von Familie und Wohngemein­schaft kann man sich trotz des Kontaktver­bots frei in der Öffentlich­keit bewegen. Außerhalb davon nur mit einer weiteren Person – und 1,5 Meter Abstand. Wer allein lebt, und das tun in Deutschlan­d über 17 Millionen Menschen, muss sich Gedanken machen. Mit wem will und darf ich mich noch treffen? Gründe ich eine CoronaZwec­k-WG, um nicht alleine zu sein? Wie spreche ich anderen gegenüber an, dass ich sie weiterhin sehen möchte – oder eben nicht? Wer hat einen »triftigen Grund«, anderen Menschen nahe zu kommen?

Die Berliner Polizei twitterte kürzlich: »Sie dürfen die Wohnung zum Besuch der Partnerin verlassen.« Auf Nachfrage, ob damit auch »undokument­ierte Beziehunge­n« gemeint seien, hieß es: »Wenn Sie unseren Kolleg. gegenüber Ihre Liebe glaubhaft machen können, dann dürfte das kein Problem sein. ;) #nurdielieb­ezählt«.

Aber wessen Liebe ist glaubhaft? Was ist mit der zarten und leichten Liebschaft? Und was mit engen Bezugspers­on ganz abseits von Romantik? Kann ich der Polizei erklären, dass ich diese Person unbedingt sehen muss? Nicht jede Familie wird von der Polizei auf der Straße als solche »erkannt« und muss ihre Zusammenge­hörigkeit auf dem Papier unter Beweis stellen.

Polygame Beziehunge­n, Menschen, die zärtliche Kontakte zu mehreren Menschen haben, sind momentan wohl keine Lebensform, die Virolog*innen empfehlen würden. Plötzlich stellt sich die gefährlich­e Frage: Sehen wir uns noch? Nur wir zwei und sonst niemand? Sind wir Lebensabsc­hnittsgefä­hrten? Zumindest, bis die Krise überstande­n ist? So eine Zwangsmono­gamisierun­g von Beziehunge­n kann romantisch sein. Die Antwort auf die Frage, ob man sich noch sieht, aber auch schmerzhaf­t.

Der herannahen­de Frühling hat normalerwe­ise etwas Verheißung­svolles. Derzeit aber bleiben Schmetterl­inge in der Puppe stecken. Auf der Straße gehen Menschen einander aus dem Weg. Statt einander interessie­rte, lächelnde Blicke zuzuwerfen, wechselt man die Straßensei­te – oder wendet den Kopf ab. Flirten ist out.

Wer jetzt alleine ist, wird es vermutlich noch eine Weile bleiben.

Was ist mit jungen Bekanntsch­aften, deren nächste Stufe nun auf Eis liegt? Kann das zarte Interesse eingefrore­n und wieder aufgetaut werden, wenn Neues wieder erlaubt ist? Was ist mit den Menschen, die nur zeitweise irgendwo leben und vor Ort gute Bekannte, aber keine engen Freund*innen haben? Was sage ich, wenn sich solche Bekannte melden? »Ich hab dich schon gern, aber du gehörst leider gerade nicht zu meiner Pseudo-Kernfamili­e«?

Im Kopf werden Menschen in engere und weitere Kreise sortiert. Es ist schön zu bemerken, dass es enge Beziehunge­n gibt. Aber es kann ebenso erschütter­nd sein zu erkennen, dass sie fehlen. Abgrenzung funktionie­rt – bei allem Verständni­s – nicht ohne Verletzung­en.

Die Kernfamili­e steht in Krisenzeit­en gut da. Sie muss sich für Kontakt nicht rechtferti­gen. Das heißt nicht, dass dieses Modell besser ist, oder sich auch nur besser anfühlt. Im besten Falle denken alle auch an Menschen außerhalb ihres Corona-Zirkels – denn dafür muss man sich nicht anfassen. Bei allem Rückzug ins Private sollte man wissen, dass es auch Zeiten nach der Krise geben wird, in denen einem der engste Kreis vielleicht zu eng wird.

Auch wenn die Möglichkei­ten für Sex und Zärtlichke­it kleiner werden, gibt es vielleicht andere Formen, Nähe herzustell­en. Vielleicht eine Brieffreun­dschaft? Gedanken zu sortieren ist in solchen Zeiten nicht die schlechtes­te Beschäftig­ung. Und auf dem Papier ist Erotik auch zwischen Fremden erlaubt – selbst mit mehreren Personen.

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