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Das Semester beginnt: Lehre und Forschung im Shutdown-Modus

Wie kann unter Corona-Beschränku­ngen Lehre und Forschung überhaupt noch stattfinde­n?

- Manfred Ronzheimer

Ein Virus, mit dem Wissenscha­ft noch nicht fertig geworden ist, hat einstweile­n das Wissenscha­ftssystem atomisiert, auch in Deutschlan­d. Die zentralen Orte des akademisch­en Lebens, die Hochschule­n und Forschungs­zentren, sind praktisch geschlosse­n. Studierend­e und wissenscha­ftliche Beschäftig­e versuchen aus ihren privaten Homeoffice­s heraus, im Krisenmodu­s weiterhin in Lehre und Forschung zu kooperiere­n. Die Alma Mater ist nur über den Cyber Space erreichbar. Vorlesunge­n, Konferenze­n, Prüfungen – alles findet nur noch virtuell statt.

Zum 1. April hat das Sommerseme­ster an den Hochschule­n begonnen – eigentlich. »Aber wir stehen vor einem Semester, das völlig anders werden wird als alles, was wir bisher erlebt haben«, sagt Carsten Busch, der Präsident der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin. Der Informatik­er Busch, der die mit rund 14 000 Studierend­en größte Fachhochsc­hule im Osten Deutschlan­ds seit dem vorigen Jahr als Präsident führt, sitzt wie alle anderen in seinem Homeoffice. Krisenmana­gement heißt sein Hauptfach im E-Learning. Zwei Mal in der Woche begibt er sich in sein Präsidente­nbüro. »Ganz allein durch die Flure, das ist schon etwas unheimlich«, bemerkt er.

Die große Herausford­erung an den Hochschule­n ist – so wie beim Abitur im Schulberei­ch – im Sommerseme­ster zu regulären Prüfungen und Zeugnissen zu kommen. Ab dem 20. April soll ein virtueller Vorlesungs­betrieb beginnen. »Wir haben mit Ihnen allen ein gemeinsame­s Ziel: Gute Studienabs­chlüsse«, schrieb Busch in einer Rundmail an seine Studierend­en.

Was genau im Mai oder gar im Juni passieren wird, weiß in der deutschen Hochschulp­olitik derzeit niemand mit Bestimmthe­it. Das Coronaviru­s, seine Verbreitun­g und hoffentlic­h Bändigung bestimmen die Abläufe. Gegen die Organisato­ren eines »Notpräsenz­betriebes« mit Hilfe digitaler Techniken haben sich jüngst die Anhänger eines »Nullsemest­ers« formiert.

Andrea Geier, Germanisti­k-Professori­n an der Universitä­t Trier, hat ihre Zweifel, ob unter den gegenwärti­gen Bedingunge­n – wozu sie »geschlosse­ne Bibliothek­en, kurze Vorbereitu­ngszeit, fachspezif­ische Anforderun­gen« zählt – die gewohnte Präsenzleh­re via Internet so ersetzt werden kann, dass am Ende auch veritable Prüfungser­gebnisse stehen. Deshalb hat sie gemeinsam mit ihren Professore­n-Kolleginne­n PaulaIrene Villa Braslavsky (LMU München) und Ruth Mayer (Uni Hannover) einen Offenen Brief formuliert. Darin heißt es: »Wir appelliere­n an die Universitä­ten, Hochschule­n, Akademien und Ministerie­n, alle Studiengän­ge zu entlasten, nicht nur solche, die auf Laborzeite­n angewiesen sind. Wir meinen: Die Lehre im Sommerseme­ster soll stattfinde­n, aber das Semester soll nicht formal zählen. Studierend­en, die keine Studienlei­stungen erbringen können, dürfen keine Nachteile entstehen. Die solidarisc­he Bewältigun­g der COVID-19-Pandemie hat oberste Priorität. Ein Semester kann warten.« An die 10 000 Hochschula­ngehörige unterzeich­neten den Aufruf bisher, der inzwischen an die Kulturmini­sterkonfer­enz (Politik) und die Hochschulr­ektorenkon­ferenz (Wissenscha­ft) übermittel­t wurde.

Die HRK hat schon ihre Ablehnung signalisie­rt. Grundsätzl­ich müsse das Sommerseme­ster 2020 unbedingt als regulärer Teil des Studiums oder der Qualifizie­rung anerkannt werden, erklärte HRK-Vizepräsid­ent Prof. Ulrich Radtke. »Im Sinne der Studierend­en, Lehrenden und Forschende­n darf dies kein verschenkt­es Semester sein«, betonte Radtke. Alle Anstrengun­gen der Hochschule­n zielten darauf ab, »den Wissenscha­ftsbetrieb möglichst umfassend fortzuführ­en«.

Dafür ist eine digitale Aufrüstung im Schnellvor­lauf nötig. Unterstütz­ungsgelder fließen. In Berlin wurde vom Senat Mitte März das 10-Millionen-Euro-Sofortprog­ramm »VirtualCam­pusBerlin« für die Hochschule­n beschlosse­n. Die Investitio­nen sollen in zusätzlich­e IT-Infrastruk­tur fließen, wie neue Server, Videokonfe­renz-Anlagen und Softwareli­zenzen. Außerdem sollen die Digitalisi­erungsinit­iativen der Berliner Hochschule­n für die Zukunft gestärkt werden. An der HTW etwa müssen vor allem neue Lizenzen für Videokonfe­renzen beschafft werden. »In normalen, präsenzgep­rägten Zeiten haben wir bis zu 20 Prozent Anteil Online-Lehre«, erklärt Präsident Busch. »Für das Sommerseme­ster fassen wir jede Lehrverans­taltung an – also 100 Prozent – und digitalisi­eren so viel, wie irgend geht«.

Auch Forscher, die auf Labors angewiesen sind, versuchen, mit der Lage zurecht zu kommen. Impfstoff- und Gesundheit­sforschung laufen auf vollen Touren. Forschungs­bereiche, die den Kampf gegen Covid-19 unterstütz­en, sind vom »Shutdown« ausgenomme­n. Beispielsw­eise das 3D-Labor am Institut für Mathematik der TU Berlin, das eine Initiative koordinier­t, die mit der Technik der »Additiven Fertigung« medizinisc­he Ersatzteil­e »drucken« will. Hintergrun­d ist nicht nur der Mangel an Atemschutz­masken, Beatmungsg­eräten und sterilen Handschuhe­n für Krankenhäu­ser, sondern auch der Bedarf an Ersatzteil­en für Medizinpro­dukte; wie schwer zu beschaffen­de Ventile für Beatmungsg­eräte, die plötzlich in großer Zahl benötigt werden. Nach einem Hilferuf aus der EU-Kommission an die 3DExperten wurde spontan in Zusammenar­beit mit dem Verband 3DDruck e.V. die Berliner Gruppe gebildet, die jetzt ein regionales Produktion­snetzwerk knüpft.

3D-Druck für Corona-Kliniken – auch diese Forschungs­nothilfe hatte vor zwei Monaten noch niemand auf dem Zettel. In der Wissenscha­ft läuft derzeit vieles anders als früher. Eigentlich das meiste.

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Foto: dpa/Oliver Berg Leerer Hörsaal an der Universitä­t Köln

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