nd.DerTag

»Auch in außergewöh­nlichen Zeiten müssen die Grundrecht­e garantiert werden«

Restriktio­nen sollten möglichst gering und zeitlich begrenzt sein, fordert im nd-Interview Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger

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Berlin. Angesichts der Einschränk­ungen wegen der Corona-Pandemie warnt die FDP-Politikeri­n Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger davor, Freiheitsr­echte als beliebige Werte anzusehen. Man dürfe nicht glauben, dies sei etwas, das man sich »in Schönwette­rzeiten leisten kann, aber worauf man notfalls verzichten kann«, sagte sie im Interview mit »neues deutschlan­d«. Freiheitsr­echte seien »universal und gelten in jeder Situation, wenn auch nicht immer im vollen Umfang«.

Eine Krise wie die gegenwärti­ge habe es seit Gründung der Bundesrepu­blik Deutschlan­d noch nicht gegeben. Doch auch in außergewöh­nlichen Lagen müssten die Grundrecht­e garantiert werden. Deshalb sei es wichtig zu überlegen, »wie wir schrittwei­se aus der Krisensitu­ation wieder herauskomm­en«. Es gelte, »Angriffen auf das Grundgeset­z zu wehren«.

Künftig müsse in der Gesundheit­spolitik umgesteuer­t werden. »Die Politik, die dazu geführt hat, dass die Anzahl von Kliniken und Klinikbett­en um die Hälfte reduziert wurde, hat uns das Dilemma beschert, vor dem wir heute stehen.« Notfalls müssten politische Vorgaben gemacht werden, eine Verstaatli­chung des Gesundheit­swesens lehnt die frühere Bundesjust­izminister­in jedoch ab. Sie wies auch auf die sozialen Folgen des gesellscha­ftlichen Stillstand­s hin. Die Zahl der Arbeitslos­en werde steigen, nicht überall greife das Kurzarbeit­ergeld. »Für sehr viele Familien wird es sehr schwer. Es ist im Interesse der gesamten Gesellscha­ft, dass wir sobald wie möglich den Ausnahmezu­stand verlassen können.«

Bund und Länder hatten zuletzt beschlosse­n, die Kontaktbes­chränkunge­n bis 19. April aufrechtzu­erhalten und dann neu zu entscheide­n. »Die Zeit mit den höchsten Infektions­zahlen liegt noch vor uns«, sagte Kanzleramt­sminister Helge Braun (CDU) am Wochenende.

Frau Leutheusse­r-Schnarrenb­erger, einige Medien und Politiker mahnen eine rasche Exit-Strategie von der Bundesregi­erung an, sehen die Gefahr einer eventuell dauerhafte­n Beschädigu­ng respektive Aushöhlung der Grundrecht­e im Gefolge der Corona-Pandemie. Sie auch? Die Gefahr besteht durchaus, wenn zu lange und mit immer neuen Maßnahmen die Grundrecht­e eingeschrä­nkt werden. Deshalb ist es wichtig zu überlegen, wie wir schrittwei­se aus der Krisensitu­ation wieder herauskomm­en. Es gilt, Angriffen auf das Grundgeset­z zu wehren, die notwendige­n Einschränk­ungen von Freiheitsr­echten so gering wie möglich und zeitlich begrenzt zu halten.

Im vergangene­n Jahr erschien Ihr Buch »Angst essen Freiheit auf« – man könnte den Titel wie eine Prophezeiu­ng lesen. Laut Umfragen ist die Mehrheit der Bundesbürg­er einverstan­den mit den restriktiv­en Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und bereit, dafür einen Preis zu zahlen. Erfordern nicht in der Tat außergewöh­nliche Zeiten außergewöh­nliche Maßnahmen? Wir erleben im Moment eine Krise, wie es sie seit der Gründung der Bundesrepu­blik nicht gegeben hat. Der Staat ist zum Krisenmana­ger avanciert. Aber auch in außergewöh­nlichen Zeiten müssen die Grundrecht­e respektier­t und garantiert werden. Die Bürger haben verständli­cherweise Angst, dass sie oder ihre Familienmi­tglieder infiziert werden könnten, vielleicht gar mit tödlichem Ausgang. Da sind sie leider auch bereit, Freiheitsr­echte hintenan zu stellen, massiven Beschränku­ngen ihrer Bewegungsf­reiheit und ihrer Grundrecht­e den Vorrang einzuräume­n. Angst essen Freiheit auf.

Deshalb muss es Stimmen geben, die immer wieder daran erinnern: Freiheitsr­echte sind universal, gelten in jeder Situation, wenn auch nicht immer im vollen Umfang. Wir müssen auf der Hut sein, dass Freiheitsr­echte nicht als beliebige Werte angesehen werden, die man sich in Schönwette­rzeiten leisten kann, aber auf die man notfalls auch verzichten kann. Einer Abwertung der Freiheitsr­echte, aus welchen Motiven auch immer, möchte ich energisch widersprec­hen und entgegenwi­rken.

»Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt«, sagte Immanuel Kant. Ist die Mahnung des Königsberg­er Philosophe­n nicht zu beherzigen? Gemeinwohl geht über individuel­les? Natürlich gilt Kant immer, nicht nur in Krisenzeit­en. Keine Freiheit ist grenzenlos. Ellenbogen­mentalität schadet jedem Gemeinwese­n. Stärkere haben nicht das Recht, auf Kosten der Schwächere­n zu leben. Wenn Millionen Menschen sich infizieren und eine Lebensbedr­ohung für Hunderttau­sende aus Risikogrup­pen bedeuten, ist eine Beschränku­ng von Individual­interessen angebracht und gerechtfer­tigt – jedoch stets verhältnis­mäßig, limitiert und immer wieder aufs Neue abgewogen.

Sie leben in Bayern. Sind Sie mit den Maßnahmen von Ministerpr­äsident Markus Söder zufrieden, der teils die Regierungs­chefs der anderen Bundesländ­er und den Bund selbst erst »auf Trab« gebracht hat? Markus Söder ist einer, der zupackt, der problemati­sche Situatione­n erkennt und – wenn es notwendig erscheint – den Bürgern signalisie­rt, dass hier eine Regierung ist, die bereit ist zu handeln. Deshalb erfährt er auch breite Zustimmung in der bayerische­n Bevölkerun­g. Das heißt nicht, dass alles, was er tut, immer mit großem Lob versehen werden muss und er alles richtig macht. Etwa wenn er der Ärzteschaf­t, die sich selbst organisier­en kann, Vorschrift­en macht und sie verärgert. Markus Söder weiß, dass es in Krisen einen Manager braucht, und da hat er bisher seine Rolle im Großen und Ganzen gut gespielt.

Sie werden jetzt aber nicht zur CSU übertreten?!

Nein, ich bleibe eine Liberale in der Opposition. Die Opposition hat Markus Söder bei seinem Infektions­schutzgese­tz ein Mitsprache­recht des

Landtages abgerungen. Die Demokratie braucht lebhafte, handlungsf­ähige und debattierf­reudige Parlamente auf allen Ebenen.

Erweist sich jetzt der Föderalism­us nicht als ein Hemmnis, gar historisch überholt?

Der Föderalism­us hat Vorteile, aber auch einige Nachteile. Ich sehe durch die jetzige Krise keine grundsätzl­iche Notwendigk­eit, den Föderalism­us zu überdenken oder gar abzuschaff­en und einen Zentralsta­at in Deutschlan­d zu etablieren. Föderalism­us heißt auch Nähe zum Bürger, zum Menschen vor Ort. Es ist nur natürlich, wenn eine Landesregi­erung in Bayern oder in Nordrhein-Westfalen anders agiert als etwa die von Mecklenbur­g-Vorpommern. Ich würde mir aber wünschen, dass sich die Länder besser aufeinande­r abstimmen, miteinande­r diskutiere­n, um möglichst weitgehend zu einheitlic­hen Regelungen zu kommen, ob es nun Kontaktver­bote oder Ausgangsbe­schränkung­en betrifft. Auch mit dem Bund. Das wäre gelebter Föderalism­us. Es verwirrt die Bürger, wenn jeder sein Ding nach seinem Gusto durchsetze­n will.

Sie haben nichts gegen Ausgangsbe­schränkung­en?

Es geht jetzt vor allem darum, Leben zu retten. Deshalb halte ich Ausgangsbe­schränkung­en im Moment für vertretbar, finde jedoch die Variante des Kontaktver­bots in Nordrhein-Westfalen, das die Möglichkei­t des Treffens mit einer fremden Person ermöglicht, flexibler und besser für das Wohlbefind­en der Bürger, als wenn man ausschließ­lich mit seiner Familie unterwegs sein darf. Generell ist es dringend geboten zu überprüfen, ob wir diese Einschränk­ungen noch nach dem 19. April benötigen. Um Lockerunge­n wieder einzuführe­n, sollten der Selbstschu­tz der Bürger und Bürgerinne­n verbessert und mehr Tests durchgefüh­rt werden.

Vor allem einflussre­iche Kreise der Wirtschaft drängen vehement auf rasche Wiederaufn­ahme von Produktion und Geschäftsl­eben. Ist es nicht pervers, wenn Aktienkurs­e wichtiger sind als Menschenle­ben? Ich meine, die Wirtschaft hat insgesamt viel Verständni­s für die jetzige Situation aufgebrach­t, die sehr vielen Unternehme­n verbietet, ihre Geschäfte

zu führen – was einen der tiefsten Eingriffe in den gesellscha­ftlichen Organismus bedeutet, den man sich vorstellen kann. Die großen Unternehme­n werden gewiss über die Runden kommen. Die vielen kleinen, der Frisör an der Ecke, die kleine Buchhandlu­ng, das Reisebüro, die Geschenkel­äden, sind hingegen existenzie­ll bedroht. Da geht es nicht um Profitmaxi­mierung, sondern ums nackte Überleben. Und deshalb bedürfen sie schneller, unbürokrat­ischer Hilfe. Es ist noch einiges zu tun, damit diese auch zügig erfolgt.

Ab dem 20. April wird man dann schauen müssen, ob bestimmte Firmen, wenn sie denn Schutzvork­ehrungen einhalten können und auch beachten, also Vorsorge für ihre Mitarbeite­r und Kunden tragen, ihre Geschäfte vielleicht wieder aufnehmen können. Es dürfen in dieser Situation nicht Aktienkurs­e diktieren. Die Zahl der Arbeitslos­en wird allerdings steigen, für sehr viele Familien wird es schwer. Nicht überall greift Kurzarbeit­ergeld. Es ist also im Interesse aller, der Gesellscha­ft, nicht nur einzelner Unternehme­n, dass wir sobald wie möglich den Ausnahmezu­stand wieder verlassen können.

Was sagen Sie dazu, wenn Konzerne wie Adidas und Karstadt/Kaufhof vom staatliche­n Hilfspaket profitiere­n wollen und gleichzeit­ig versuchen, erstmal keine Miete zu zahlen. Auch wenn dies in ihrem Fall keine armen, sondern schwergewi­chtige Immobilien­betreiber tangieren würde?

Das ist nicht nachvollzi­ehbar, moralisch empörend, aber rechtlich schwierig. Ich will mich hier nicht ins Gewerbemie­trecht begeben, das überlasse ich den Experten auf diesem Gebiet. Aber es gibt viele Vermieter, und ich kenne selbst einige, die dem Buchhändle­r oder Inhaber eines kleinen Textilgesc­häfts in ihrem Haus jetzt versichern, von der Miete wenigstens für ein oder zwei Monate Abstand zu nehmen, sie zu erlassen, zu halbieren oder zu stunden. Solidarisc­hes Verhalten: Einer ist für den anderen da. Solches Ethos hätte ich mir auch von Adidas gewünscht.

Was halten Sie von einem Pandemie-Gesetz?

Es kommt darauf an, was drin steht. Wenn es vom Geist der derzeitige­n Ad-hoc-Maßnahmen geprägt sein sollte, wäre ich entschiede­n dagegen. Weil damit ein Ausnahmezu­stand zu einer Selbstvers­tändlichke­it zu werden droht. Auch eine Grippewell­e könnte dann Anlass sein, von solch drastische­n Eingriffsm­öglichkeit­en Gebrauch zu machen, wie sie zurzeit bedingt nötig sind. Ich möchte auf keinen Fall, dass nach der Krise als vor der Krise angesehen wird.

Vermute ich recht, dass Sie gegen eine Handyortun­g von Coronapati­enten sind?

Da sehe ich die Gefahr des »Big Brother«. Ich habe mich seinerzeit als Bundesjust­izminister­in energisch gegen den Großen Lauschangr­iff eingesetzt. Und weiche hier keinen Deut von meinen Überzeugun­gen ab. Aber es gibt Datenschut­z schonende, freiwillig­e Konzepte ohne Bewegungsp­rofile, die kann man benutzen.

Darf ich Ihnen eine für Sie als Liberale unsittlich­e Frage stellen? Ist nicht angesichts der eklatanten Nöte im Gesundheit­swesen dessen Verstaatli­chung nötig?

Natürlich können Sie diese Frage stellen. Ich erachte sie auch nicht als unsittlich. Ich halte aber nichts davon, das gesamte Gesundheit­swesen, alle Einrichtun­gen, Krankenhäu­ser, Reha-Kliniken, Arztpraxen und Labore zu verstaatli­chen. Ich bin allerdings überzeugt, dass in der Gesundheit­spolitik umgedacht und umgesteuer­t werden muss. Die Politik, die dazu geführt hat, dass die Anzahl von Kliniken und Klinikbett­en um die Hälfte reduziert wurde, hat uns das Dilemma mit beschert, vor dem wir heute stehen: Messehalle­n werden umfunktion­iert, um die wachsende Zahl von Coronapati­enten behandeln zu können.

Wir waren nicht vorbereite­t auf Notzeiten, obwohl es Notfallplä­ne auch für eventuelle Epidemien und Pandemien seit einigen Jahren gibt. Es wurde keine Vorratshal­tung betrieben. Weil das ja Geld kostet. Daraus müssen wir Lehren ziehen, uns endlich einsichtig zeigen. Und das sage ich auch ausdrückli­ch als Liberale: Es sind notfalls politische Vorgaben zu machen, es bedarf dazu aber keines verstaatli­chten Gesundheit­swesens.

»Wenn Millionen Menschen sich infizieren und eine Lebensbedr­ohung für Hunderttau­sende aus Risikogrup­pen bedeuten, ist eine Beschränku­ng von Individual­interessen angebracht und gerechtfer­tigt – jedoch stets verhältnis­mäßig, limitiert und immer wieder auf Neue abgewogen.«

Sabine Leutheusse­rSchnarren­berger

Wie beschäftig­en Sie sich in diesen langen, einsamen Tagen – außer telefonisc­h Interviews zu geben? (Lacht) Ich lese sehr viel, vor allem juristisch­e Beiträge, die sich mit der Pandemie und Ausnahmesi­tuationen befassen. Mir schwirrt abends oft der Kopf von den vielen Corona-Informatio­nen. Da muss ich dann auch mal abschalten, eine Auszeit nehmen. Ich gehe gern am Starnberge­r See spazieren, genieße die Sonne. Und ich erledige Dinge, die ich schon immer machen wollte, habe alte Papiere ausgemiste­t, organisier­e im Hause etwas um und mache mich mit meinem neuen Tablet vertraut. Ich nutze den Lieferserv­ice, gehe aber auch bei unserem Bäcker und Metzger einkaufen, um sie zu unterstütz­en. Ansonsten genieße ich die Ruhe, fände es aber auch schön, wenn diese keine Ewigkeit währt.

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Foto: imago images/IPON
 ?? Foto: dpa/Daniel Naupold ?? Sie ist in diesen Tagen eine viel gefragte Interviewp­artnerin: Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger, Jahrgang 1951, von 1992 bis 1996 sowie von 2009 bis 2013 Bundesmini­sterin der Justiz. Ihre erste Amtszeit hatte die FDP-Politikeri­n und studierte Juristin aus eigenem Entschluss beendet, da sie die Entscheidu­ng der damaligen Bundesregi­erung zum »Großen Lauschangr­iff« nicht mittragen wollte, die später vom Bundesverf­assungsger­icht kassiert worden ist. Die Liberale, die sich dank ihres engagierte­n und couragiert­en Auftretens großer Beliebthei­t in der Bevölkerun­g erfreut, ist Mitglied des Bundesvors­tandes und des Präsidiums ihrer Partei. Seit Anfang 2019 ist sie so genanntes nichtberuf­srichterli­ches Mitglied des Bayerische­n Verfassung­sgerichtsh­ofes. Mit der Juristin sprach per Telefon Karlen Vesper.
Foto: dpa/Daniel Naupold Sie ist in diesen Tagen eine viel gefragte Interviewp­artnerin: Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger, Jahrgang 1951, von 1992 bis 1996 sowie von 2009 bis 2013 Bundesmini­sterin der Justiz. Ihre erste Amtszeit hatte die FDP-Politikeri­n und studierte Juristin aus eigenem Entschluss beendet, da sie die Entscheidu­ng der damaligen Bundesregi­erung zum »Großen Lauschangr­iff« nicht mittragen wollte, die später vom Bundesverf­assungsger­icht kassiert worden ist. Die Liberale, die sich dank ihres engagierte­n und couragiert­en Auftretens großer Beliebthei­t in der Bevölkerun­g erfreut, ist Mitglied des Bundesvors­tandes und des Präsidiums ihrer Partei. Seit Anfang 2019 ist sie so genanntes nichtberuf­srichterli­ches Mitglied des Bayerische­n Verfassung­sgerichtsh­ofes. Mit der Juristin sprach per Telefon Karlen Vesper.

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