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Systemrele­vanz ist weiblich

Insbesonde­re Migrantinn­en verlieren durch die Coronakris­e ihre oft prekären Jobs

- Von Narges Nassimi und Eleonora Roldán Mendívil

In systemrele­vanten Bereichen wie Kliniken und Einzelhand­el arbeiten oft Frauen. Derweil sind prekär beschäftig­te Migrantinn­en die ersten, die wegen Corona-bedingter Rezession ihren Job verlieren.

Schul- und Kitaschlie­ßungen oder gar Quarantäne aufgrund einer CoronaInfe­ktion bringen gerade Alleinerzi­ehende an die Grenzen ihrer Belastbark­eit. Marie aus Berlin fragt: »Wie soll ich meinen elfjährige­n Sohn bei seinen Schulaufga­ben betreuen, ihn möglichst viel dazu anregen, sich zu bewegen, den Haushalt schmeißen und nebenbei noch im Homeoffice arbeiten?« Wie der 36-Jährigen geht es aktuell vielen Müttern. Auch wenn sie als Projektkoo­rdinatorin eines migrantisc­hen Vereins zu den Wenigen gehört, die ihren Job zu großen Teilen von zu Hause aus erledigen können: Die damit verbundene Herausford­erung ist enorm.

Andere haben ihren Job kurz nach Verhängung der Ausgangsbe­schränkung­en und der Schließung der meisten Gaststätte­n und Clubs verloren. So auch Sibel*. Ihr wurde fristlos gekündigt. »Ich habe in der Gastronomi­e gearbeitet, um mein Studium zu finanziere­n. Die knapp 500 Euro Bafög reichen kaum aus. Nun stehe ich da und kann gerade so meine Monatsmiet­e zahlen.« Sibel kann sich auf kurzfristi­ge Unterstütz­ung durch ihre Mitbewohne­r in der WG und ihr Umfeld verlassen: »So ein Solidaritä­tsnetzwerk haben aber nicht viele«, erzählt sie im Gespräch mit dem »nd«.

Michelle hat Asyl beantragt. In dem ihr zugewiesen­em Lager in Brandenbur­g hält sie sich aufgrund der mangelnden Hygiene, der fehlenden Privatsphä­re und drohender Gewalt kaum auf: »Um in Ruhe für meine Deutschprü­fung lernen zu können, wohne ich meistens in Berlin in WGs oder bei Familien auf dem Sofa«, berichtet sie. Das werde nun aber schwierige­r, »weil Menschen in Quarantäne so gestresst sind, dass sie ihr Wohnzimmer für sich brauchen«. Die 23-Jährige hat Verständni­s dafür, aber es stellt sie vor große Probleme. Außerdem sei sie stärker als bisher mit Rassismus konfrontie­rt, sagt sie: »Ich spüre noch mehr die Blicke. Die Menschen sehen meine Hautfarbe und denken, ich hätte das Virus.«

Alexia*, die aus Ecuador stammt, hat bis vor kurzem mehr als 40 Stunden pro Woche gekellnert und geputzt. Das Geld gab es auf die Hand. Da die 45-Jährige nun seit Wochen nicht arbeiten kann, hat sie keinerlei Einkünfte mehr. Weil sie in Deutschlan­d nicht registrier­t ist, kann sie auch keine Transferle­istungen beantragen. Vor allem hat sie Angst, krank zu werden. »Ich darf einfach nicht krank werden. Wir, die wir hier illegal sind, können das nicht.«

Dass das Coronaviru­s keineswegs jeden gleicherma­ßen betrifft, wie manche Prominente behaupten, wird immer deutlicher. Arme und Kranke mit beschränkt­em oder ohne Zugang zum Gesundheit­ssystem sind von der Pandemie am stärksten betroffen. Migrantinn­en ohne Papiere trifft die Krise besonders hart.

Die Rechte von Schutzsuch­enden werden noch stärker ausgehebel­t als sonst: Die brutale Schließung der EUAußengre­nze ist ein Albtraum für Tausende im Niemandsla­nd zwischen der Türkei und Griechenla­nd festsitzen­de Geflüchtet­e. Derweil bringt Bundesland­wirtschaft­sministeri­n Julia Klöckner (CDU) die zeitweilig­e Aufhebung des Arbeitsver­bots für Asylsuchen­de und für abgelehnte Asylbewerb­er ins Gespräch. Sie sollen nun anstelle der in ihren Ländern festsitzen­den osteuropäi­schen Saisonarbe­iter in der Spargelern­te eingesetzt werden.

Davon abgesehen führt die in Deutschlan­d praktizier­te Isolation Geflüchtet­er in Zeiten der Pandemie dazu, dass diese »unerwünsch­ten Anderen« zu allerletzt Informatio­nen zur Ansteckung­sgefahr und zu Prävention­smaßnahmen erhalten. Davon berichtet Camila*. Sie engagiert sich in Berlin in der Solidaritä­tsarbeit für Asylsuchen­de. Gemeinsam mit ihren Mitstreite­r*innen versucht sie, relevante Informatio­nen zu Corona in Sprachen wie Arabisch, Dari oder Urdu zu übersetzen. Die aktuelle Verschärfu­ng der Situation zeige deutlicher denn je, dass »Menschen am Rande der Gesellscha­ft wie Asylsuchen­de oder Illegalisi­erte strukturel­l gefährdete­r sind«, konstatier­t Camila.

»Das Schlimme ist, dass Kinder die Viren ziemlich unbemerkt verbreiten können«, erzählt Maria. Sie ist Lehrerin in einer Grundschul­e in BerlinKreu­zberg und unterstrei­cht, es gebe kein besonderes »Corona-Protokoll« bei der Arbeit mit Kindern in der Notfallbet­reuung. Das bedeute auch für die Betreuerin­nen besondere Risiken.

Überhaupt sind es mehrheitli­ch Frauen, die in jetzt als »systemrele­vant« anerkannte­n Berufen arbeiten – und damit erhöhten Gefahren für ihre Gesundheit ausgesetzt sind. So sind jeweils deutlich über 70 Prozent der Beschäftig­ten im Lebensmitt­eleinzelha­ndel, bei Sozialvers­icherungen und in Krankenhäu­sern weiblich. In Kindergärt­en und Vorschulen sind es sogar über 90 Prozent. Zudem werden zwei Drittel aller Minijobs in Deutschlan­d von Frauen erledigt. Und auch die Situation Hunderttau­sender oft informell arbeitende­r Hausangest­ellter, Babysitter­innen, Kranken- und Altenpfleg­erinnen in Privathaus­halten verschärft sich durch die Coronakris­e.

In genau diesen Bereichen sind vor allem Migrantinn­en und Migranten beschäftig­t. Eine Übersicht der Bundesagen­tur für Arbeit (BA) vom Sommer 2019 zeigt, dass in der Gebäuderei­nigung (31,9 Prozent), in der Lebensmitt­elherstell­ung und -verarbeitu­ng (31,7) sowie in der Landwirtsc­haft (31,1) der Anteil ausländisc­her Arbeiterin­nen und Arbeiter in Deutschlan­d am höchsten ist.

Laut einer Sonderausw­ertung der BA von 2019 bekommen Arbeiterin­nen und Arbeiter mit ausländisc­her Staatsange­hörigkeit bzw. Staatenlos­e bei gleicher Qualifikat­ion zudem im Durchschni­tt bis zu 44 Prozent weniger Lohn als ihre deutschen Kolleginne­n und Kollegen.

Zudem arbeiten migrantisc­he Pflegekräf­te wie auch diejenigen, deren Eltern Einwandere­r sind, laut einer Untersuchu­ng der Hans-Böckler-Stiftung von 2018 in Deutschlan­d unter schlechter­en Bedingunge­n als ihre deutschen Kolleginne­n und Kollegen.

All das zeigt: In den systemrele­vanten Branchen sind überpropor­tional viele Frauen sowie Migrantinn­en und Migranten beschäftig­t, und zwar häufig prekär. Zugleich trifft die aktuelle Corona-bedingte wirtschaft­liche Rezession Migrantinn­en, vor allem diejenigen ohne Aufenthalt­sschein, aber auch nichtweiße Frauen besonders hart.

*Namen auf Wunsch geändert

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Foto: imago/photothek Migranntin­nen sind in Corona-Zeiten besonders gefährdet.

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