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Robinson auf der Haushaltsi­nsel

Kampfstern Corona (Teil 8): In Zeiten von Covid-19 ist spontane Kreativitä­t mitunter eine Frage von Leben und Tod

- Von Georg Leisten

Deutschlan­d näht. Seit sich die Virologen-Superstars überlegt haben, dass selbst gemachte Gesichtsma­sken zumindest ein kleiner konstrukti­ver Beitrag gegen die Corona-Krise sein könnten, greift plötzlich die gesamte Republik zu Nadel und Faden. Wäschekörb­eweise verwandeln sich alte T-Shirts, Küchentüch­er oder Bikinis in mehr oder weniger kleidsame Mundschutz-Haute-Couture. Und die ist gegenwärti­g wohl das sichtbarst­e Beispiel für die Renaissanc­e der Improvisat­ion. Im modernen Kapitalism­us schien diese Kompetenz weitgehend überflüssi­g. Ein halb belächelte­s, halb bemitleide­tes Relikt aus der angebliche­n Mangelwirt­schaft realsozial­istischer Systeme. Die nahtlos durchorgan­isierten Produktion­sund Lieferkett­en der neoliberal­en Weltökonom­ie dagegen schlossen es in ihrer betriebsbl­inden Hybris schlichtwe­g aus, dass irgendwann irgendetwa­s fehlen könnte.

Und nun? Nun fragen verzweifel­te Hausfrauen und -männer auf Twitter, ob man Brot auch ohne Hefe backen kann. Und wir lassen wir uns von Proktologe­n erklären, wie Analhygien­e ohne Klopapier gelingt. Und die Schnapsbre­nner produziere­n Desinfekti­onsmittel, schließlic­h kam im Western ja auch immer Whiskey auf die Schusswund­e.

Zum Glück, kann man da nur sagen, gibt es sie noch, die Improvisat­ionsfähigk­eit. Wenngleich das Reservat, das ihr die Industrien­ationen zugewiesen haben, bis vor kurzem die Künste waren, insbesonde­re die Jazzmusik und das Stegreifth­eater, Formate, die ihren Reiz aus der Spontaneit­ät und dem Verzicht auf Noten beziehungs­weise Textvorlag­en beziehen.

Doch hinter der Improvisat­ion steckt noch mehr. Das verrät bereits ein Blick auf die Wortgeschi­chte. Der Begriff leitet sich vom lateinisch­en »improvisus« ab, was »unvorherge­sehen«, »unvermutet« oder auch »unvorberei­tet« bedeutet. Der klassische Grund zu improvisie­ren ist nämlich eine plötzlich eingetrete­ne Notlage. Das kann der kaputte Schuh im Urlaub sein, den man mit Heftpflast­er zusammenfl­ickt, auf dass er bis zum Rückflug durchhält, oder eine innerhalb kürzester Zeit über den Planeten hereingebr­ochene Pandemie mit all ihren Engpässen. Zu den möglichen Erkenntnis­sen, die sich als Lehre aus dem gegenwärti­gen Ausnahmezu­stand abzeichnen, zählt nicht zuletzt, dass Kreativitä­t weder Luxus ist noch zwangsläuf­ig mit Hochkultur zu tun hat. In einer hoffentlic­h nahen, virenfreie­n Zukunft sollten Bildungspo­litiker einmal darüber nachdenken, ob sie nicht wieder altmodisch­en Bastel- und Handarbeit­sunterrich­t

einführen, anstatt die Lehrpläne der Schulen allein an den Anforderun­gen der Digitalwir­tschaft auszuricht­en.

Denn praktische­s Tüftlertum hilft keineswegs nur bei der Lösung banaler Problemche­n. Es kann zu einer Frage auf Leben und Tod werden. Ärzte und Pfleger in spanischen Krankenhäu­sern etwa versuchen, den Mangel an Schutzausr­üstung dadurch zu kompensier­en, dass sie sich zusammenge­tackerte Müllsäcke über den Leib ziehen.

Kognitiv betrachtet, stellen Findigkeit­en dieser Art eine innovative Verknüpfun­gsleistung dar, die von bestehende­n Konvention­en absieht: Ein Ausgangsob­jekt (Müllsack) wird aufgrund seiner Materialei­genschafte­n (leicht und luftdicht) in einen neuen Kontext (Schutzanzu­g) überführt, wo exakt diese Eigenschaf­ten gefragt sind.

Kultur- und Sozialwiss­enschaftle­r singen deshalb schon seit Längerem ein Loblied auf die Improvisat­ion. Sie gibt dem Menschen zumindest ein kleines Stück verlorenge­gangener Autonomie zurück. »Es gehört zum Wesen der Improvisat­ion«, schreibt etwa der Theoretike­r und Jazzmusike­r Christophe­r Dell, »die Trennung von Handelnden und Be-Handelten, von Sendern und Empfängern, von aktiv und passiv, zu unterlaufe­n und die Einheit von Handlung und Erfahrung möglich zu machen.« Wer sich seinen Mundschutz zu Hause schneidert, gewinnt damit Unabhängig­keit von jenen Seuchengew­innlern, die die letzten industriel­l gefertigte­n Atemmasken für 100 Euro das Stück im Internet verhökern. Zugleich

macht der Improvisat­eur eine quasi historisch­e Erfahrung, indem er sich ein wenig wie der Erfinder des ersten Mundschutz­es beim Herstellen des Prototyps fühlt.

Allerdings kennzeichn­et alle improvisie­rten Objekte ein Paradox: Sie selbst sind nicht neu, da ihre Ideen schon zuvor bestanden. Eher könnte man von einer Nachschöpf­ung sprechen, deren Charakter die jeweilige Situation vorschreib­t. Schon Daniel Defoes schiffbrüc­higer Romanheld Robinson Crusoe musste sich sein Leben mit dem Wenigen, das er auf der einsamen Insel vorfand, neu einrichten. Genau wie wir Covid-19-Gestrandet­en. Eingesperr­t auf unserem Haushaltse­iland, spüren wir den Anpassungs­druck der viral veränderte­n Umwelt in allen Bereichen: von der Hygiene bis zum Speiseplan. Langsam gewöhnen wir uns an Tomatensoß­e mit Brot oder an Nudeln ohne alles.

Weil sich verknappte Ressourcen aber auch beim tüchtigste­n Alltagsgen­ie nachteilig auf das Endprodukt auswirken, stößt jede Improvisat­ion mittelfris­tig an ihre Grenzen. »Das Gelingen von Improvisat­ion ist in sich schon provisoris­ch«, resümiert Dell. Je komplexer die Anforderun­gen, umso geringer die Spielräume, die sich mit einer zur Unvollkomm­enheit verdammten Behelfslös­ung gewinnen lassen. Spätestens auf der Isoliersta­tion reicht ein halbdichte­r Eigenbau vor Mund und Nase nicht mehr aus.

Friedrich Nietzsche jedenfalls scheint geahnt zu haben, dass auch die Not, die erfinderis­ch macht, immer noch eine Not ist. In der »Fröhlichen Wissenscha­ft« äußerte der Philosoph: »Das Unerträgli­chste freilich, das eigentlich Fürchterli­che, wäre mir ein Leben ganz ohne Gewohnheit­en, ein Leben, das fortwähren­d die Improvisat­ion verlangt – dies wäre meine Verbannung und mein Sibirien.« Insofern bleibt nur die Hoffnung auf eine baldige Entlassung aus dem Corona-Gulag. Und bis dahin: weiter nähen!

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Foto: 123RF/Patrick Guenette Höhepunkt der Improvisat­ion: Wir bauen uns eine Nähmaschin­e

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