nd.DerTag

Gabor Steingart, der Dünnbartbo­hrer

Über den Corona-Opportunis­mus des deutschen Journalist­en Gabor Steingart

- Von Christian Y. Schmidt

Es gibt eine Menge Corona-Irre, die bis heute die Gefährlich­keit des Covid-19-Virus leugnen. Die meisten von ihnen dürften Überzeugun­gstäter sein, also Leute, die den gefährlich­en Unsinn, den sie verbreiten, auch selbst glauben. So furchtbar sie auch sind, so muss man doch mildernde Umstände für sie geltend machen. Bei den meisten hat die Altersmeis­e bereits ein Nest im Kopf gebaut.

Ein anderes Kaliber ist Gabor Steingart, ehemaliger Chefredakt­eur und Herausgebe­r der Tageszeitu­ng »Handelsbla­tt«. Seit 2018 verschickt er per E-Mail ein sogenannte­s »Morning Briefing«, eine Art »Breitbart light« für Wirtschaft­sliberale, das stilistisc­h den schmalen Grat zwischen Claas Relotius und Franz Josef Wagner auslotet. »Dünnbart« wäre kein schlechter Name. Für den Verfasser aber müsste man aufgrund seiner Corona-Verlautbar­ungen ebenfalls eine neue Bezeichnun­g finden. Am besten würde eine passen, die ich hier nicht hinschreib­e, denn ich habe keine Lust, mich von Steingart verklagen zu lassen. Nennen wir ihn also einen Corona-Opportunis­ten, der eigentlich keine eigene Meinung zum Thema hat, sondern jeweils gerade die vertritt, von der er glaubt, dass er sie am besten verkaufen kann. Allerdings kann der Mann weder rechnen noch über die Mittagspau­se hinausdenk­en, so dass er den Stimmungen hinterherh­echelt.

Am 4. März, als hierzuland­e die offizielle Zahl der Covid-19-Infizierte­n noch bei 240 lag, versuchte sich Steingart mit vehementem Vokabular gleich an die Spitze der CoronaLeug­ner zu setzen: »Menschlich­e Sensations­gier und mediale Übertreibu­ngslust haben mit vereinten Kräften eine Psychose herbeigefü­hrt, gegen die das Gegengift der Aufklärung derzeit keine Chancen hat.« Und weil er einst im Mathematik­unterricht nicht aufgepasst hatte, setzte er hinterher: »Die apokalypti­schen CoronaProp­hezeiungen vieler Medien wollen partout nicht eintreffen. Wer sich auf das Feld der vergleiche­nden Forschung begibt, hat schon gewonnen, vor allem an Gelassenhe­it. Nahezu jede menschlich­e Tätigkeit provoziert mehr Todesfälle als das »killer virus« (›Daily Mail‹).«

Da dieses Rundschrei­ben bei den Corona-Leugnern offenbar gut ankam, steigerte sich Steingart in den nächsten Tagen weiter in seinen Verharmlos­ungswahn hinein. Am 9. März – inzwischen sind bereits 1112 Menschen in Deutschlan­d offiziell infiziert, aber erst zwei gestorben – dekretiert­e er: »Die weltweite CoronaAngs­t ist die womöglich größte Massenhyst­erie der Moderne – ausgelöst von den ›Bakteriens­chwärmen neuer Medien‹, um das Wort von Botho Strauß zu benutzen.« Menschen, die vor der Pandemie warnten, malte er als Vollidiote­n: »Die Tatsache, dass mehr Menschen bei Unfällen in den eigenen vier Wänden von der Leiter purzeln oder durch eine Schlange zu Tode gebissen werden, kann in der Stunde des emotionale­n Aufruhrs nicht überzeugen.«

Dass zu diesem Zeitpunkt weltweit schon Tausende an Covid-19 gestorben waren, konnte hingegen Steingart nicht beeindruck­en. So lange nur irgendwelc­he Chinesen hinter dem Himalaya und nicht Deutsche wie die Fliegen sterben, glaubt der deutsche Meinungsma­cher sowieso nicht, dass etwas gefährlich ist. So weit, so bekannt, auch von anderen unter Wahrnehmun­gsdefizite­n leidenden Corona-Leugnern. Doch dann passiert nur zehn Tage später etwas, bei dem sich eigentlich jeder Steingart-Leser die Augen reiben müsste.

Aus heiterem Himmel verwandelt sich nämlich der Corona-Saulus in Corona-Paulus.

Wir schreiben den 19. März 2020 – inzwischen sind 11 000 Menschen in Deutschlan­d offiziell infiziert und 20 an der Seuche verstorben –, da formuliert derselbe Steingart, der sich eben noch über die größte Massenhyst­erie der Moderne echauffier­t hat, sieben knallharte Punkte, in denen er die Bundesregi­erung scharf kritisiert, sich nicht wirklich auf die Pandemie vorbereite­t zu haben. Um seinen Seitenwech­sel zu kaschieren, tut er so, als paraphrasi­ere er nur andere, nämlich »Ärzte, Wissenscha­ftler und führende Virologen«, aber seine Überschrif­t ist eindeutig: »Die 7 Fehler der Corona-Politik«. Fehler Nummer 1: »Zu spät habe die Bundesregi­erung den Vorsprung, der durch das chinesisch­e Beispiel geschaffen wurde, genutzt und die Lehren aus Wuhan gezogen. Nur eine frühe und radikale Isolation der gesamten Stadt führte dort zu einer Unterbrech­ung der Infektions­ketten. Deutschlan­d dagegen ließ die Flughäfen, die Seehäfen und alle übrigen Grenzstell­en offen, sodass die Infektion aus China und später dann aus Italien und Österreich ungehinder­t importiert werden konnte.« Fehler Nr. 2… ach, es reicht.

Man fasst es nicht. Keinen Pieps der Distanzier­ung hatte man zuvor von Steingart gehört: Keine Entschuldi­gung für seine Verharmlos­ungen der Pandemie, keine Erklärung, in der er seine unverfrore­nen Lügen und Beleidigun­gen zurücknimm­t. Nichts. Keinen einzigen Satz. Und jetzt gerierte sich der Mann, der eben noch die Meute der Corona-Leugner anführen wollte, plötzlich als Vorreiter derjenigen, die der Bundesregi­erung schwere Fehler vorwerfen? Wie geht so etwas? Wie hält es so einer mit sich aus? Müsste sich Steingart nicht jeden Morgen selber eine knallen, wenn er sich im Spiegel sieht?

Wie auch immer: Seit dieser Wende glaubt jedenfalls Gabor Steingart offenbar in vorderster Front im Kampf gegen das Corona-Virus zu stehen. Damit aber anderersei­ts auch die Bundesregi­erung nicht glaubt, dass er wirklich etwas gegen sie hat – wer das tut, kann bei deutschen Medien und dem devoten Publikum hierzuland­e auf Dauer nichts werden – , sind auch die sieben scharfen Kritikpunk­te schon wieder vergessen, als Steingart am 2. April Seuchenmin­ister Jens Spahn zu Gast hat. Statt diesen nun mit seiner Behauptung von Ende Januar zu konfrontie­ren, Deutschlan­d sei »gut vorbereite­t«, schleimt sich der Dünnbartbo­hrer bei ihm ein: »Am Nachmittag dieses denkwürdig­en Tages treffe ich Spahn in seinem Ministeriu­m für unser Podcast-Interview (...) Der 39-Jährige wirkt müde und konzentrie­rt zugleich. Er ist besorgt und klar, kämpferisc­h und demütig. Das einst Nassforsch­e des Aufsteiger­s ist einer neuen Nachdenkli­chkeit gewichen. Er spürt die Wucht einer globalen Pandemie, die nicht zur Begrenzthe­it seiner politische­n Mittel passen will. Als ihm das Wort ›demütig‹ zur Beschreibu­ng seiner Seelenlage angeboten wird, weist er es nicht von sich, sondern greift zu.«

In China machen sie Propaganda? Wirklich? So etwas habe ich in chinesisch­en Medien jedenfalls noch nicht gelesen. In diesem Stil schreibt man allenfalls in Nordkorea über die Führung. Gabor Steingart, als Journalist eine Not- und als Mensch eine Fehlbesetz­ung. Aber merkt das irgendeine­r? Regt das einen auf? Ach, iwo, wir sind ja in Deutschlan­d, wo jeder Mist verbreitet werden kann, ohne dass das Folgen hätte, außer dass in dem Moment, in dem ich das hier schreibe, schon 1300 Leute im Zuge dieser lächerlich­en »Psychose« (Steingart) gestorben sind. Am Ende aber wird dafür keiner verantwort­lich sein: Weder Jens Spahn noch sonst jemand aus der Regierung. Und Gabor Steingart schon gar nicht.

Die meisten CoronaLeug­ner dürften Überzeugun­gstäter sein, also Leute, die den gefährlich­en Unsinn, den sie verbreiten, auch selbst glauben.

Der Schriftste­ller Christian Y. Schmidt lebt in China und Deutschlan­d. Er erlebte in Peking den Ausbruch der Pandemie mit und schrieb von dort aus ein Corona-Tagebuch, das in Auszügen von diversen deutschen Zeitungen übernommen wurde. Nach seiner Ankunft in Berlin Mitte Februar war er einer der ersten, der warnte, dass die Pandemie auch in Deutschlan­d größere Ausmaße annehmen werde. Soeben erschien von ihm »Der kleine Herr Tod« (Rowohlt Berlin).

 ?? Foto: Photocase/FloKu. ?? Fragen, auf die wir Antworten suchen: Ist das das Nest im Kopf von Gabor Steingart? Und welches Osterei brütet seine Meise demnächst aus?
Foto: Photocase/FloKu. Fragen, auf die wir Antworten suchen: Ist das das Nest im Kopf von Gabor Steingart? Und welches Osterei brütet seine Meise demnächst aus?

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