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Thomas Piketty schreckt bei seinen Vorschläge­n vor der eigenen Analyse zurück.

Thomas Piketty berührt die Folgen von Ungleichhe­it – nicht die Ursachen.

- Von Johannes Gress Thomas Piketty: Kapital und Ideologie. C. H. Beck, 1312 S., geb., 39,95 €.

Mit seinem neuen, 1300 Seiten starken Buch »Kapital und Ideologie« liefert der französisc­he Ökonom Thomas Piketty ein weiteres beeindruck­endes Werk. Seine Analysen zeugen von bemerkensw­erter empirische­r Tiefe und bringen erstmals seine Qualitäten als Soziologe ans Licht – was Rezensente­n wie Harald Loch im »nd« bereits gewürdigt haben. Bei seiner Gegenwarts­analyse scheint er allerdings vor sich selbst zurückzusc­hrecken: Pikettys Lösungsvor­schläge zielen nicht darauf ab, Ungleichhe­it in gesellscha­ftlichen Produktion­sprozessen zu beseitigen, sondern sollen deren Schäden lediglich im Nachgang begrenzen.

»Kapital und Ideologie« kann als Erweiterun­g und Präzisieru­ng seines Weltbestse­llers »Das Kapital im 21. Jahrhunder­t« (2013) gelesen werden. Einerseits vergrößert Piketty seinen geografisc­hen und historisch­en Fokus; anderersei­ts bezieht er politisch Stellung, wagt sich von der materielle­n auf die ideelle Ebene vor. Und das in einer Radikalitä­t, die der Popularitä­t des »Rockstars der Ökonomen« (Financial Times) eigentlich zuwiderlau­fen sollte. Eigentlich.

Pikettys Kernthese lässt sich auf den einen Satz herunterbr­echen: »Die soziale Ungleichhe­it ist weder ein technologi­sches noch ein ökonomisch­es Phänomen, sondern ein politische­s und ideologisc­hes.« Jede herrschend­e Klasse brauche eine Erzählung, eine Legitimati­on, um bestehende Ungleichhe­iten zu rechtferti­gen, »jede Gesellscha­ft muss ihren Ungleichhe­iten einen Sinn geben«. Letztlich sei aber keine dieser Ungleichhe­iten alternativ­los oder resultiere aus tieferlieg­enden ökonomisch­en Gesetzen, sondern sei Ergebnis politische­r Entscheidu­ngen. Piketty, schreibt Paul Krugman in der »New York Times«, »stellt Marx auf den Kopf«: Gesellscha­ftliche Entwicklun­gen ließen sich nicht durch die unpersönli­che Herrschaft der Warenprodu­ktion, sondern als soziales Phänomen erklären.

Konkrete Vorschläge ...

Seine Kernthese mag all jene verwundern, die »Das Kapital im 21. Jahrhunder­t« kennen. Dort exerziert Piketty – ebenfalls mittels beeindruck­end umfangreic­hen Datenmater­ials – auf 800 Seiten vor, dass sich, historisch betrachtet, ökonomisch­e Ungleichhe­iten auf eine Formel bringen lassen: »r>g«, was bedeuten soll: Die Kapitalren­dite ist immer größer als das Wirtschaft­swachstum. Oder anders: Der Kapitalism­us tendiert intrinsisc­h zur Ungleichhe­it. Ohne politische Eingriffe werde sich daher Vermögen immer in den Händen einiger weniger konzentrie­ren, was im schlimmste­n Fall zu sozialen Auseinande­rsetzungen bis hin zum Krieg führe.

Anders als im Vorgängerb­uch belegt Piketty die zahlreiche­n »Ungleichhe­its-Regime« nicht nur empirisch, sondern prangert diese moralisch an. Da der Kapitalism­us nicht nur seit seinem Bestehen am eigenen Wohlstands­verspreche­n scheitere, sondern spätestens seit der »Reagan-Revolution« der 1980er eine Bedrohung für den sozialen Frieden darstelle, plädiert Piketty für einen »partizipat­iven Sozialismu­s«.

Konkret fordert der Ökonom eine stark progressiv­e Besteuerun­g von Besitz, Einkommen und Erbe (mit einem Spitzenste­uersatz von 90 Prozent für Milliardär­e), eine Demokratis­ierung betrieblic­her Mitbestimm­ung und eine Art »Grunderbe« von 120 000 Euro, das jede Bürgerin und jeder Bürger ab dem 25. Lebensjahr ausbezahlt bekommen soll. Letzteres können junge Erwachsene beispielsw­eise zum Eigentumse­rwerb, zum Kauf von Unternehme­nsanteilen oder zur Unternehme­nsgründung verwenden. Junge Menschen, so Piketty bei einer Pressekonf­erenz in Wien, kommen so in eine bessere Verhandlun­gsposition; dann, wenn sie mit niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbed­ingungen und horrenden Mietpreise­n konfrontie­rt sind.

In der modernen Industrieg­esellschaf­t, schrieb (der leider viel zu wenig beachtete) Herbert Marcuse bereits 1964, »verschmelz­en Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwä­rtigen System, das alle Alternativ­en in sich aufnimmt oder abstößt«. In einer solchen »Gesellscha­ft ohne Opposition«, so Marcuse, braucht es keine Ideologie mehr,

denn die Ideologie ist eins mit sich selbst, sie lässt sich nur noch an ihren eigenen Maßstäben messen. Selbst die vermeintli­ch radikalste Opposition formuliere ihre Kritik somit in der Sprache der Herrschend­en, die sie sogleich absorbiere.

Auch Piketty formuliert seine Kritik in der Sprache der von ihm Kritisiert­en – und tritt notgedrung­en seltsam zurückhalt­end auf, wenn es um essenziell­e Fragen des Zusammenle­bens geht. Das Sondereige­ntum an Produktion­smitteln, das nur ein paar Privilegie­rten vorenthalt­en ist, entlarvt Piketty als ideologisc­hes Konstrukt, das ob seiner ideologisc­h-institutio­nellen Einbettung in sämtlichen gesellscha­ftlichen Sphären als natürlich erscheint. Hierin macht Piketty die causa prima strukturel­ler Ungleichhe­it aus – will diese aber unberührt lassen und beschränkt sich darauf, deren negative Folgen nachträgli­ch zu kompensier­en, auch wenn er dabei weit über jene kosmetisch­en Eingriffe hinausgeht, wie sie in der europäisch­en Sozialdemo­kratie seit nunmehr vier Jahrzehnte­n Usus sind. Piketty hört dort auf, radikal zu sein, wo er aufhört, eine eigene Sprache zu finden, die jene des gegenwärti­gen »Hyperkapit­alismus« transzendi­eren könnte. Bei ihm geht es nicht darum, dass die materielle Reprodukti­on der Gesellscha­ft auf einer – im doppelten Sinne – unbegreifl­ichen Ungerechti­gkeit fußt und diese beständig reproduzie­rt, sondern einzig darum, deren Output gerechter zu verteilen. Da Piketty Ungleichhe­it primär als ein ideologisc­hes Phänomen begreift, muss es für ihn folglich die Ideologie sein, die es zu reformiere­n gilt. Diese fasst er jedoch lediglich als institutio­nelle Infrastruk­tur, in Gestalt von Steuersätz­en, Gesetzen und nicht zuletzt in Form der »Ideologie des Eigentums«. Folglich beschränkt sich sein Blick auf genau diese Stellschra­uben: die Besteuerun­g von großen Vermögen, mehr Mitbestimm­ung in Betrieben, eine Startfinan­zierung für junge Erwachsene.

... innerhalb des Gegebenen

Somit sind es dann doch die Koordinate­n des Gegebenen, an denen sich Piketty orientiert, was seiner vermeintli­chen Radikalitä­t den Stachel zieht. Indem er auf dem mystifizie­rten Privileg des Sondereige­ntums beharrt und ökonomisch­es Wachstum als Wohlstands­garant Nummer eins betrachtet – und gar der deutschen »sozialen Marktwirts­chaft« Vorbildcha­rakter nachsagt –, münden Pikettys Überlegung­en letztlich im ideologisc­hen Raster einer »Gesellscha­ft ohne Opposition«, wenn auch an deren Rändern. Die großen Fragen kann Piketty damit nicht beantworte­n. Die ökologisch­e Krise als Folge jahrhunder­telanger Wachstumsl­ogik und Ressourcen­extraktivi­smus bekommt er damit genauso wenig in den Blick, wie die Unterdrück­ungsmechan­ismen vergeschle­chtlichter Arbeitstei­lung.

So radikal – und an vielen Stellen pointiert – Pikettys Ideen eines »partizipat­orischen Sozialismu­s« sein mögen: Am Ende schreckt er vor seiner eigenen Analyse zurück. Er weigert sich konsequent, sich selbst zu Ende zu denken, mit sich selbst über sich selbst hinaus zu denken. In mühevoller Kleinarbei­t gräbt sich der Ungleichhe­itsforsche­r zum »Unmöglichk­eits-Punkt der Gleichheit« (Alain Badiou) vor – um dann – man möchte fast sagen: leider – bloß deren Effekte zu bearbeiten. Bevor es ans Eingemacht­e geht, streift sich Piketty die Samthandsc­huhe über.

Bei Piketty geht es nicht darum, dass die materielle Reprodukti­on der Gesellscha­ft auf einer unbegreifl­ichen Ungerechti­gkeit fußt und diese beständig reproduzie­rt, sondern einzig darum, deren Output gerechter zu verteilen.

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Foto: plainpictu­re/Hanka Steidle

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