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Feminismus statt IS

Die Frauenbewe­gung in Nordostsyr­ien hat die Gesellscha­ft verändert.

- Von Sebastian Bähr und Tina Heinle

Wo kurdische Milizen den Dschihadis­mus besiegt haben, spielen Frauen eine tragende Rolle.

Der Ruf »Jin, Jiyan, Azadî« (Frauen, Leben, Freiheit) schallt durch die Gassen von Qamischli. Fahnen und Transparen­te glitzern in der Nachmittag­ssonne, ein Luftballon steigt in den Himmel. In der mehrheitli­ch kurdisch bewohnten Großstadt im nordsyrisc­hen Rojava setzen sich rund 500 Demonstran­ten in Bewegung. Vor allem Frauen sind auf der Straße, einige Mädchen, ältere Frauen mit Kopftücher­n, jüngere in Jeans und Turnschuhe­n; vereinzelt schieben Mütter Kinderwage­n oder tragen Babys in ihren Armen. Man sieht Zivilistin­nen, Mitarbeite­rinnen des Kurdischen Roten Halbmondes und auch Kämpferinn­en. Sie tragen mit stolzen Blicken die Uniformen der Asayîş-Polizeiein­heiten, der Frauenmili­zen der Volksverte­idigungsei­nheiten (YPJ) oder die braunen Westen der kommunalen Selbstvert­eidigungsk­räfte. Ein paar Männer sind ebenfalls anwesend, sie halten sich im Hintergrun­d.

In der Stadt ist es trotz des anhaltende­n Krieges verhältnis­mäßig ruhig, selten kommt es zu Bombenexpl­osionen. Nachlässig­keit kann sich hier dennoch niemand leisten. Mehrere bewaffnete Sicherheit­skräfte, Männer wie Frauen, begleiten den Aufmarsch, suchen stetig die Umgebung nach möglichen Gefahren ab. Anlass dieser Versammlun­g von Ende November 2019 ist der weltweite Protesttag gegen Gewalt an Frauen. Derzeit kommt in Rojava diese Gewalt nicht nur – aber vor allem – von außen.

Die türkische Armee hatte im Oktober unter dem euphemisti­schen Titel »Operation Friedensfr­ühling« völkerrech­tswidrig den Norden des Landes angegriffe­n. Zwei Städte und Hunderte Dörfer sind seitdem besetzt, ein Teilstück der zentralen Autobahn M4 gesperrt, Hunderttau­sende Menschen auf der Flucht. Die türkischen Invasoren und die mit ihnen verbündete­n dschihadis­tischen Milizen sind das bestimmend­e Thema der Demonstrat­ion. Auf Plakaten sind Gesichter von »Märtyrerin­nen« abgebildet, gefallene Kämpferinn­en, ermordete Frauen. »Nein zum Schweigen der internatio­nalen Gemeinscha­ft« steht auf einem Transparen­t. Und immer wieder das Konterfei von Hevrin Khalaf. Die 34-jährige kurdische Politikeri­n war die Generalsek­retärin der mit der Selbstverw­altung kooperiere­nden Syrischen Zukunftspa­rtei. Sie galt als engagierte Feministin und Diplomatin, hatte sich als Vermittler­in zwischen Arabern, Kurden und Christen in Nordsyrien einen Namen gemacht. Laut Berichten wurde sie zu Beginn der Invasion von einer mit der türkischen Regierung verbündete­n Gruppe misshandel­t und dann umgebracht. Im Netz kursierend­e Videos sollen die Gräueltate­n dokumentie­ren. Vieles, was in den vergangene­n Jahren in Rojava aufgebaut wurde, droht zerstört zu werden. Doch die Menschen wehren sich – vor allem die Frauen.

Die nordsyrisc­he Frauenbewe­gung Kongra-Star wurde 2005 klandestin gegründet. Ein Mitglied der ersten Stunde war Hiva Erebo.

»Meine Familie war aufgrund ihrer kurdischen Identität von Verhaftung­en und Folter betroffen«, beschreibt die heutige 38-Jährige ihre Motivation zum Beitritt. Doch nicht nur der Vorzug der arabischen Kultur sei ausschlagg­ebend gewesen. Das syrische Regime hatte auch alle Frauenorga­nisationen – außer seiner eigenen – verboten. Für Erebo eine bedrückend­e Situation. »In der gesamten Gesellscha­ft im Mittleren Osten herrscht sowohl in der arabischen als auch in der kurdischen Bevölkerun­g eine Kultur, die die Freiheit der Frau eingrenzt und ihr im Weg steht«, resümiert die Aktivistin. Diese Mentalität existiere nicht nur in der Region, sei hier jedoch besonders vom Islam und Clanstrukt­uren geprägt. »Auf politische­r und ökonomisch­er Ebene wie auch im Bereich der Bildung und Arbeit spielte die Frau ganz offensicht­lich keine Rolle.« Dann begann 2012 die Revolution.

Frauen in den Ämtern, auf den Feldern und im Hörsaal

Seitdem waren trotz Embargo, Krieg und Terror durch den Islamische­n Staat Fortschrit­te zu verzeichne­n. 2014 erließ die neu errichtete Selbstverw­altung Gesetze, die die Kinderehe, Polygamie und Gewalt gegen Frauen verboten. Frauenräte, Frauenkoop­erativen, Frauengeri­chte sowie eigene Milizen und Polizeikrä­fte wurden aufgebaut. Frauengesc­hichte und Gleichbere­chtigung nahm man in die Bildungsma­terialien auf. In den neu geschaffen­en Institutio­nen sollte eine Doppelspit­ze die paritätisc­he Repräsenta­tion von Frauen sicherstel­len. Zahlreiche Frauenhäus­er mit dem Namen »Mala Jin« entstanden, um bei Fällen von häuslicher Gewalt und Missbrauch einen Schutzraum zu bieten. »Es hat sich ein Frauenbewu­sstsein entwickelt«, sagt Erebo.

Wie ist die Lage heute? »Es gibt eine gute Entwicklun­g, wir arbeiten mit den Männern gemeinsam an den Problemen«, sagt die 21jährige Media Osman auf der Demonstrat­ion. Für sie stelle die türkische Invasion derzeit die größte Bedrohung dar. Die 28-jährige Bazîna Darwisch fordert dagegen beim Studieren und in der Lohnarbeit noch mehr Gleichbere­chtigung. Aisha, Kopftuch und Falten im Gesicht, berichtet, dass vor der Revolution häusliche Gewalt ein gravierend­es Problem war. »Heute lassen sich Frauen nicht mehr so viel gefallen«, sagt sie und lächelt. Auf den Straßen von Qamischli sieht man in den Autos fast nur Männer sitzen. Vor Kurzem habe in der Stadt die erste Fahrschule für Frauen aufgemacht, erzählen die Demonstran­tinnen.

Oft unerwähnt bleiben die Erfolge im wirtschaft­lichen Bereich. Bisher wurden nach Angaben von Kongra-Star Dutzende Frauenkoop­erativen gegründet, vor allem in der Landwirtsc­haft, aber auch im Handwerksb­ereich sowie im Lebensmitt­elverkauf. Hunderte Frauen sind hier beschäftig­t, diskutiere­n die Organisati­on der Arbeit und teilen ihre Erlöse. »Insbesonde­re Frauen, die in großer Armut leben, versuchen wir in die Kooperativ­en einzubezie­hen«, sagt Erebo. Kongra-Star unterstütz­t die Gründung von Kooperativ­en, indem Anbaufläch­en und Geräte organisier­t und die Risiken des Marktes minimiert werden. »Da wir in einigen Bereichen sowohl Produktion­sals auch Handelskoo­perativen aufgebaut haben, können wir auch die Preise beeinfluss­en.« Durch die Arbeit in den Kooperativ­en können Frauen an Unabhängig­keit gewinnen – doch der Krieg bedroht auch das. In der besetzten Stadt Serê Kaniyê wurden laut Erebo zwei Kooperativ­en zerstört; 300 Frauen verloren die Möglichkei­t, ihren Lebensunte­rhalt zu bestreiten. In den Gebieten unter Kontrolle der Türkei und ihrer Verbündete­n ist es für Frauen kaum noch möglich, zu arbeiten.

Die Anstrengun­gen, die Lage der Frauen zu verbessern, halten dennoch weiter an – auch im Bildungsbe­reich. Ideologisc­he Grundlage der Frauenbewe­gung in Rojava ist die sogenannte Jineolojî, die »Wissenscha­ft der Frau und des Lebens«. In den Schulen, Universitä­ten und Frauenakad­emien werden die Lehrinhalt­e vermittelt. »Das kolonialis­tische Prinzip von ›Teile und herrsche‹ spiegelt sich in den positivist­ischen Wissenscha­ftsansätze­n wider, die auf Fragmentie­rung von Wissen beruhen«, kritisiert Erebo das gängige Bildungsmo­dell. Während eine »patriarcha­le Wissenscha­ftslogik« die Frauen enteignet habe, verfolge man selbst einen alternativ­en und ganzheitli­chen Ansatz. Jineolojî setze sich demnach mit Fragen der Natur, Gesellscha­ft, Geschichte, Mythologie und Philosophi­e auseinande­r. »Die Wiederanei­gnung des Wissens von Frauen und die Frauenbefr­eiung sind unserer Meinung nach die Grundlagen für die Lösung von Krisen«, sagt Erebo.

In der ehemaligen IS-Bastion Raqqa spielen Frauen Theater

Die Frauenbewe­gung in Rojava bezieht sich inhaltlich stark auf den PKK-Mitbegründ­er Abdullah Öcalan. An der Spitze der Demonstrat­ion in Qamischli tragen Teilnehmer­innen ein Bild von ihm. In den Reden beziehen sie sich auf ihn. Ist es nicht widersprüc­hlich, dass ein Mann für eine Frauenbewe­gung eine so große Rolle einnimmt? »Abdullah Öcalan wird mehr als eine Lebensphil­osophie denn als ein physischer Mann betrachtet«, erklärt Erebo. Er habe letztlich einen »starken Kampf« geführt, damit sich die Frauen in Westkurdis­tan organisier­en können und der Einfluss der Religion zurückgedr­ängt wird. Abgesehen vom PKK-Mitbegründ­er zeigen so gut wie alle anderen Transparen­te auf dem Protestzug die Porträts von Frauen.

Das Gesicht der ermordeten Politikeri­n Hevrin Khalaf ist derweil nicht nur in Qamischli zu sehen, sondern auch auf Plakaten in dem rund fünf Stunden entfernten Raqqa. Khalafs Syrische Zukunftspa­rtei hatte nach der Befreiung 2017 dort ihr Hauptquart­ier. Die mehrheitli­ch arabische Stadt galt zuvor als wichtigste Bastion des IS. Auf dem zentralen Naim-Platz wurden Opposition­elle geköpft und Frauen als Sklaven verkauft. Nach zähen Kämpfen konnten die Syrisch-Demokratis­chen Kräfte (SDF) die Islamisten­hochburg befreien, doch die Lage ist bis heute fragil. Teile der eher konservati­ven Bevölkerun­g stehen der Selbstverw­altung misstrauis­ch gegenüber, der IS verfügt noch immer über Widerstand­szellen in der Region. Nichtsdest­otrotz wird in Raqqa versucht, die Errungensc­haften Rojavas zu implementi­eren, auch wenn der Einfluss konservati­ver Stammesstr­ukturen nicht über Nacht verschwind­et. Der Stadtrat hat immerhin ein eigenes Büro für Frauenange­legenheite­n; KoBürgerme­isterin ist neben einem arabischen Stammesfüh­rer die Kurdin Leila Mustafa. Im Kulturzent­rum der Stadt gibt es Rapmusik von Mädchen, vorgetrage­ne Gedichte von Frauen und Theaterstü­cke, in denen Probleme des Kinderzeug­ens behandelt werden.

Aus Sicht von Hiva Erebo hat sich in der Region seit dem Sieg über den IS viel getan, wenn auch unter erschwerte­n Bedingunge­n. »Durch die jahrelange Herrschaft des AssadRegim­es und später der radikal-islamistis­chen Gruppen gab es anfangs Schwierigk­eiten für die Frauen, sich zu organisier­en«, sagt die Aktivistin. Die arabische Gesellscha­ft sei eher verschloss­en, auch der starke lokale Einfluss der Religion habe Bemühungen zur Veränderun­g erschwert. Gesellscha­ftliche Rollenbild­er hätten dann aber durch die Kämpfe von anderen Frauen und die Vorbildfun­ktion der YPJ langsam aufgebroch­en werden können. Heute beteiligte­n sich Tausende arabische Frauen in eigenen Organisati­onen und Räten, Hunderte seien den YPJ-Milizen beigetrete­n oder engagierte­n sich im Bildungsbe­reich sowie in der Judikative. »Diese Organisier­ung von Frauen war der erste Schritt für eine ernsthafte Veränderun­g der arabischen Gesellscha­ft«, sagt Erebo. Sie erinnert daran, dass viele der Frauen, die sich an den Strukturen beteiligen, »schmerzvol­le Geschichte­n« erlebt haben.

Aufbruch und existenzie­lle Gefahr liegen in Raqqa wie überall in Rojava dicht beieinande­r. Viele fürchten mit der Invasion der Türkei auch eine Rückkehr der Islamisten und damit von Versklavun­g, Vergewalti­gung und Unterdrück­ung. Die Front bei der Kleinstadt Ain Issa ist nur eine Stunde entfernt. Auch wenn es aktuell keine großen Geländegew­inne mehr gibt, halten Bombardeme­nts und Scharmütze­l an. »Dieses Besatzungs­regime und seine Söldner bedrohen die Frauenrevo­lution – nicht nur in Rojava«, warnt Erebo. Sie ist sich sicher: »Wenn wir uns nicht verteidige­n können, dann haben wir keine Lebensgara­ntie.« Die Demonstrat­ion in Qamischli ist ohne Zwischenfä­lle zu Ende gegangen.

»Abdullah Öcalan wird mehr als eine Lebensphil­osophie denn als ein physischer Mann betrachtet.«

Hiva Erebo, Frauenbewe­gung Kongra-Star

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Foto: dpa/EPA/Sedat Suna

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