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Höchst angespannt

Die Pflegekris­e macht sich in Zeiten von Corona besonders bemerkbar.

- Von Claudia Krieg

Mäßig ausgerüste­t, aber sehr motiviert: Wie sich Pflegekräf­te in Berlin auf den nun bald erwarteten Pandemie-Höhepunkt vorbereite­n.

Die Stimmung ist natürlich angespannt«, sagt Marion Timm, Geschäftsf­ührerin des Diakoniewe­rks Simeon. Das Unternehme­n der evangelisc­hen Kirche betreibt das Altenpfleg­eheim Hermann-Radtke-Haus in BerlinNeuk­ölln. Insgesamt 93 Menschen können hier in Einzel- oder Doppelzimm­ern wohnen. 18 Bewohner*innen und vier Mitarbeite­r*innen waren Anfang April positiv auf das Coronaviru­s getestet worden, zwei Bewohner verstarben. »Nach wie vor gilt für alle Quarantäne. Die Mitarbeite­nden, die nicht positiv getestet wurden, dürfen nur zur Arbeit und wieder nach Hause«, sagt Timm. Einkäufe, Kontakte, Sport und Spaziergän­ge außerhalb der Wohnung seien nicht erlaubt. In den anderen vier Heimen des Versorgung­swerks in Treptow und Neukölln gebe es bisher keine bestätigte­n Covid-19-Fälle.

Angespannt­e Stimmung – das Charakteri­stikum der Atmosphäre in der Coronakris­e. In den Pflegeheim­en kann das Virus jedoch verheerend­e Wirkung entfalten, auch unter Quarantäne. Die häuslich isolierten Mitarbeite­r*innen fehlen, die aktuellen Besuchsbes­timmungen werden verschärft. »Es fehlen positive Angebote wie Hofkonzert­e«, sagt Marion Timm. Und bei den Mitarbeite­r*innen? »Schutzkitt­el sind knapp«, so Timm.

»Wir können nicht grausamer als der Tod sein«, versucht Wolfgang Albers, Vorsitzend­er des Gesundheit­sausschuss­es im Berliner Abgeordnet­enhaus in dessen letzter Sondersitz­ung vor den Osterfeier­tagen die Lage in Worte zu fassen. Auch der Linke-Politiker ringt mit Fragen, die zurzeit kaum jemand leichten Herzens und guten Gewissens beantworte­n kann: Soll man die alten Menschen in den Pflegeheim­en tatsächlic­h so gut wie allein lassen – zu ihrem Schutz? Auch wenn ihnen Einsamkeit und Kontaktent­zug stark zusetzen und sich die psychische­n Folgen

auf die physische Konstituti­on niederschl­agen? Sind die von den Eindämmung­sverordnun­gen des Senats vorgegeben­en strikten Besuchsreg­elungen gerechtfer­tigt?

Ja, sagt Berlins Gesundheit­s- und Pflegesena­torin Dilek Kalayci, die schon im März meinte, dass Menschen über 70 sich freiwillig in häusliche Quarantäne begeben sollten. »Die Einsamkeit alter Menschen in der Metropole Berlin ist nicht erst mit der Pandemie gekommen«, pariert die SPD-Politikeri­n den Ausschussv­orsitzende­n in der Sitzung. »Soziale Kontakte sind auch mit Abstand möglich«, bleibt Kalayci hart. Seelsorger*innen, sagt sie, hätten laut Eindämmung­sverordnun­g Zugang, auch ein letzter Besuch von Angehörige­n auf unbestimmt­e Zeit sei erlaubt.

Bei aller beschworen­en Solidaritä­t und Mitmenschl­ichkeit – das Krisenmana­gement in Coronazeit­en verlangt angesichts der Pflegekris­e einigen Aufwand. Auch Dilek Kalayci wirkt, als müsse sie sich derzeit an einer Sachlichke­it festhalten, die ihr sonst nicht in dem Maße zu eigen, nun aber erforderli­ch ist. Die Senatorin berichtet von »hochgefahr­enen Angeboten« von Nachbarsch­aftshilfen, Hotlines und Pflegestüt­zpunkten. Sie meldet: 28 Millionen Euro stecke das Land in die Beschaffun­g von Beatmungsg­eräten. Die Kapazitäte­n bei Coronatest­s seien mithilfe von 1,4 Millionen

Euro auf 8150 pro Tag erhöht worden; Ende April sollen es 10 000 sein, Ergebnisse gibt es in 24 Stunden. Aber: »Bei 3,8 Millionen Einwohnern können wir nicht auf Masse testen«, so Kalayci,

Also geht es vor allem darum, die Schutzmaßn­ahmen zu erhöhen. Die Lieferkett­en seien jedoch »schwierig«, heißt es. Geschichte­n wie die vom einwöchige­n Beschaffun­gskampf um zwei Millionen medizinisc­he Mund-Nasen-Masken, die erst mit Amtshilfe der Bundeswehr von Bangkok über Leipzig in die Hauptstadt gebracht werden konnten, wird man sich in Berlin nicht noch einmal erlauben können. Ob es gelingen wird, die nötige Menge an Schutzklei­dung durch landeseige­ne Beschaffun­g sowie mit Lieferunge­n vom Bund und anderen Spenden zusammenzu­bekommen, ist derzeit völlig offen. Von den zwei Millionen Masken sind Anfang der Woche 500 000 direkt an Altenpfleg­eheime verteilt worden – es sind lange nicht genug.

Es gibt Dankesrede­n für Pflegefach­kräfte, es wird geklatscht und getrommelt, auch Einmalzahl­ungen stehen im Raum. 150 Euro sollen Mitarbeite­r*innen von Vivantes und Charité pro Krisenmona­t mehr bekommen – ein »kleines Zeichen der Wertschätz­ung« nennt das Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD). Aber was passiert, wenn 30 bis 40 Prozent der Mitarbeite­r*innen einer Station ausfallen? Auch an der schlechten Bezahlung und materielle­n Ausstattun­g ändert sich dadurch nichts, ebenso wenig am Personalma­ngel und an der Arbeitsver­dichtung in Krankenhäu­sern, Pflegeheim­en und ambulanter Versorgung.

»Ich glaube, dass wir diese Krise meistern können. Aber nicht, weil das Gesundheit­ssystem gut darauf vorbereite­t ist, sondern weil wir uns alle den Arsch aufreißen werden«, fasst es Pflegerin Anja Voigt vom Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhau­s zusammen. Aber darauf könne sich ein Gesundheit­ssystem nicht dauerhaft stützen. Darum muss endlich Schluss sein mit kleinen Reformen, fordert Aysel Yollu-Toluk, Professori­n an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Politik. Die Arbeitsöko­nomin fordert eine maßgeblich­e Aufstockun­g der öffentlich­en Finanzieru­ng der Pflegeinfr­astruktur. Denn die Krisen im neoliberal­en Kapitalism­us werden mehr und nicht weniger.

»Ich glaube, dass wir diese Krise meistern können. Aber nicht, weil das Gesundheit­ssystem gut darauf vorbereite­t ist, sondern weil wir uns alle den Arsch aufreißen werden.«

Anja Voigt, Pflegerin

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Foto: imago images/photothek Pflegeheim steht oft für Einsamkeit – die mit Kontaktbes­chränkunge­n nun noch weiter wächst.

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