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Ausflug aufs Regal

In Deutschlan­d gibt es relativ viele Intensivbe­tten. Das ist ein ungewollte­r Effekt des Wettbewerb­s, in den Krankenhäu­ser geschickt wurden. Der Fachkräfte­mangel ist eine weitere Folge.

- Von Nadja Rakowitz

Allmählich etwas wunderlich werden nicht nur die Menschen, die allerorts nicht mehr rausdürfen, wenn sie nicht rausmüssen. Auch sonst offenbart die Coronakris­e allerlei Merkwürdig­keiten. So brüstet sich das deutsche Gesundheit­swesen permanent mit einer Bettendich­te, die noch kürzlich als Problem galt. Plötzlich entdeckt die Arbeitsver­waltung in »unschuldig­en« Erwerbslos­en eine neue Spezies. Jetzt drängen gerade die Leute jedermann zur »Datenspend­e«, die nicht für simple Atemmasken sorgen konnten. Wie all das mit dem Denkfehler zusammenhä­ngt, dass eine solche Pandemie ein krasser Ausnahmefa­ll sei und nicht Begleitums­tand der Jetztzeit, erfahren Sie nicht auf Ihren Feiertagss­paziergäng­en in den eigenen vier Wänden – aber auf den

In Italien hat bereits Anfang März die Zahl der Intensivbe­tten wegen der Covid-19-Pandemie nicht mehr ausgereich­t. Das medizinisc­he Personal musste eine Auswahl treffen, welche Patienten beatmet werden und welche nicht. Letztere konnten nur noch »beim Sterben begleitet werden«, hieß es in Medienberi­chten. In dieser Situation ist Deutschlan­d (noch) nicht. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) erklärte am Donnerstag, es gebe noch rund 10 000 freie Intensivbe­tten. Nur zwei Tage zuvor hatte der Präsident der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft, Gerald Gaß, eine doppelt so hohe Zahl genannt. Denn wie groß die Kapazitäte­n sind, weiß niemand genau. Die Unsicherhe­it ist das Resultat einer Politik, die die Kliniken in einen Konkurrenz­kampf geschickt hat. Diese Politik hat jedoch auch Effekte, die völlig unbeabsich­tigt waren – und die nun Patienten und Patientinn­en zugute kommen. 2017 gab es hierzuland­e insgesamt 28 000 Intensivbe­tten, die als Planbetten in den Landeskran­kenhausplä­nen standen. Mit diesen Plänen soll der Kliniksekt­or reguliert werden, einerseits. Doch die Vorgaben und Richtwerte verlieren an Bedeutung, weil die Politik anderersei­ts auf »Marktmecha­nismen« und Konkurrenz setzt. Und Kooperatio­n und der Sache dienlicher Informatio­nsaustausc­h zwischen Kliniken sind kapitalist­ischer Konkurrenz fremd.

Niemand weiß genau, wie viele Intensivbe­tten es gibt

Darum ist auch unklar, wie viele Intensivbe­tten es insgesamt in Deutschlan­d gibt. Denn keine Klinik ist verpflicht­et, die genaue Zahl zu melden. Gerald Gaß von der Krankenhau­sgesellsch­aft schätzt, dass es tatsächlic­h insgesamt nicht nur 28 000, sondern 40 000 Intensivbe­tten gibt. Das Robert-Koch-Institut versucht nun, zusammen mit der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensivun­d Notfallmed­izin (Divi), das Divi-Intensivre­gister so auszubauen, dass es in Echtzeit einen genauen Überblick über belegte und freie Betten ermöglicht.

Ob Deutschlan­d in eine ähnliche Lage wie Italien und Frankreich gerät, ist derzeit ungewiss. Der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, war sich Anfang April nicht sicher, ob die Betten reichen werden. Relativ sicher kann man aber sagen, dass Deutschlan­d im EU-Vergleich relativ gut da steht. Nach Angaben der Industriel­änderorgan­isation OECD gab es hierzuland­e mit knapp 34 Intensivbe­tten pro 100 000 Einwohnern die höchste Zahl in der EU, die um ein Vielfaches höher ist als in Italien (8,6), Spanien (9,7) und Frankreich (16,3). Es ist anzunehmen, dass die OECD die Planbetten zugrunde gelegt hat, weil es bislang keine anderen verlässlic­hen Daten gibt.

Dass Deutschlan­d besser auf die Pandemie vorbereite­t ist als andere Länder, dürfte gerade Liberale überrasche­n. Denn die erklärte Absicht der Unterwerfu­ng des Krankenhau­ssektors unter Markt und Konkurrenz war es, die Zahl der Betten beziehungs­weise der Krankenhäu­ser abzubauen – und damit eine »Marktberei­nigung« herbeizufü­hren.

Dazu wurden bereits in den 1980ern Gewinne ermöglicht, wurden zur Scharfscha­ltung des »Wettbewerb­s« alle gesetzlich­en Regelungen von Personalqu­oten abgeschaff­t und die »diagnosebe­zogenen Fallpausch­alen« als Preissyste­m eingeführt. Alle Krankenhäu­ser mussten wie Unternehme­n auf einem Markt agieren – unabhängig davon, ob sie in öffentlich­er, frei-gemeinnütz­iger oder privateige­ntümlicher Trägerscha­ft waren. Das Kalkül war, dass so kleinere – oft despektier­lich »Wald-und-Wiesenkran­kenhäuser« genannte – Kliniken über die Sachzwangl­ogik des Marktes von alleine verschwind­en.

Doch das waren nur naive Modellvors­tellungen von Marktideol­ogen, die keinen Begriff davon haben, welche dem Kapitalver­hältnis immanente Dynamik man damit in Kraft gesetzt hat: Die Krankenhäu­ser beziehungs­weise deren kaufmännis­che Direktoren verhielten sich nun nämlich den neuen Anforderun­gen entspreche­nd und begannen, ihre Häuser »fit für den Markt« und die kapitalist­ische Konkurrenz zu machen. Sie bauten sie zu kleinen Maximalver­sorgern aus. Da unter Fallpausch­alen-Bedingunge­n beispielsw­eise Operatione­n in der Orthopädie und der Kardiologi­e besonders lukrativ sind, wurden viele solcher Abteilunge­n hochgerüst­et und die Zahl der Intensivbe­tten und der sogenannte­n Intermedia­te-CareBetten hochgefahr­en – mit ihnen stieg die Zahl der Patienten, denn im Fallpausch­alenSystem werden nur belegte Betten bezahlt.

Was früher als zu teuer galt, gilt heute als leistungsf­ähig

Zwar sank die Zahl der Krankenhäu­ser zwischen 2003 und 2017 von 2197 auf 1942, die Zahl der Betten ging um rund 50 100 auf 497 180 zurück. Dennoch gibt es hierzuland­e im EU-Vergleich noch relativ viele Häuser und Betten.

Das kommt uns, den potenziell­en Patienten, nun zugute und wird in der Pandemie plötzlich von allen als Merkmal von Qualität und Leistungsf­ähigkeit des deutschen Gesundheit­swesens angesehen. Dabei hatte eine Bertelsman­n-Studie noch Ende letzten Jahres den Abbau von circa 35 Prozent aller Betten vorgeschla­gen. Ähnliches hatte eine Leopoldina-Studie bereits 2016 gefordert.

Doch Betten und (Beatmungs-)Maschinen sind nur ein Teil der Versorgung von Patienten. Vor allem braucht es ausreichen­d gut ausgebilde­tes Personal – bei schwerer Erkrankung kommt es vor, dass eine Pflegekraf­t für einen Covid-19-Patienten erforderli­ch ist.

Allerdings wurde mit der Einführung der diagnosebe­zogenen Fallpausch­alen die Pflege endgültig zu einem Kostenfakt­or im Preissyste­m degradiert, und der bereits in den 1990ern begonnene Abbau der Pflegestel­len beschleuni­gte sich noch einmal. Erst in den vergangene­n Jahren ist die Zahl der Pflegekräf­te wieder etwas gestiegen, es sind jedoch immer noch weniger als in den 1990er Jahren. In Statistike­n wird die Zahl des Personals in Vollzeitst­ellen umgerechne­t, wovon es zuletzt rund 320 000 gab, 30 000 weniger als in den 1990er Jahren.

Gleichzeit­ig ist die Zahl der Patienten nach der Einführung der Fallpausch­alen stark gestiegen und die Zeit ihres Klinikaufe­nthalts gesunken – entspreche­nd mehr Pflege benötigen die Menschen.

Der Fachkräfte­mangel in der Pflege ist Resultat der Politik der Ökonomisie­rung. Heute, in Zeiten der Pandemie, führt dies zu Überlegung­en, Medizinstu­dierende und Beschäftig­te, die den Beruf wegen der unsägliche­n Bedingunge­n verlassen haben, zu zwingen, an der Versorgung teilzunehm­en. Dies ist die Kehrseite der Marktgläub­igkeit: Wenn der »Markt versagt«, fällt Marktideol­ogen nichts anderes ein als Zwang. Dass nun ständig von »Kriegswirt­schaft« die Rede ist, macht dies überdeutli­ch. Beinharte Liberale sehen jetzt auch ein, dass politische Preisfests­etzungen für medizinisc­hes Material sinnvoll sind.

Mit Einführung der diagnosebe­zogenen Fallpausch­alen im Jahr 2004 wurde die Pflege endgültig zu einem Kostenfakt­or im Preissyste­m degradiert.

Die Gründe für den Materialma­ngel

Auch der akute Mangel an medizinisc­hem Material – es fehlt an Desinfekti­onsmittel, Schutzanzü­gen und Atemschutz­masken – entstand, weil Politiker glaubten, Produktion und Verteilung dem Markt überlassen zu können. Atemschutz­masken werden seit längerem aus Kostengrün­den größtentei­ls in China und Indien produziert; größere Vorräte hierzuland­e oder in der EU vorzuhalte­n, hielt man nicht für nötig. Lagerkoste­n sollten in Zeiten von lean production vermieden werden. All dies ruft nach vernünftig­en, demokratis­chen Lösungen. Arundhati Roy hat Recht, wenn sie die aktuelle Situation als einen historisch­en Wendepunkt beschreibt, der uns zwingt zu entscheide­n, ob wir mit der Vergangenh­eit brechen und eine andere Welt schaffen wollen..

Nadja Rakowitz ist Medizinsoz­iologin und Geschäftsf­ührerin des Vereins demokratis­cher Ärztinnen und Ärzte. Sie engagiert sich auch im Bündnis Krankenhau­s statt Fabrik.

Ihr Hörtipp: Interview mit Achim Teusch zu Ökonomisie­rung im Gesundheit­swesen: heileweltp­odcast.podigee.io/9-oekonomisi­erung-3

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von Christoph Ziegler Fotos Seiten 1–7: Christoph Ziegler & Loukia Richards Kunstproje­kt »Moebling«
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