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Irene Poczka Von der Rückkehr der Pandemien in den globalen Norden

Infektions­krankheite­n sind zurück im globalen Norden. Statt Prävention betreiben Regierunge­n Notfallpol­itik.

- Von Irene Poczka

Zum ersten Mal seit Langem ist Europa Hotspot einer Pandemie. Etwas scheinbar Undenkbare­s ist Realität. Denn Infektions­krankheite­n galten über weite Strecken des 20. Jahrhunder­ts als Problem der »Anderen«, des globalen Südens. Selbst HIV, Ebola, Schweinegr­ippe und Sars hatten daran wenig geändert. Tatsächlic­h aber war die historisch­e Ausnahme, was wir für normal hielten. Nur von etwa 1950 bis 1990 – also vor dem Fall des »Eisernen« beziehungs­weise »Bambus-Vorhangs« – waren auch Fachkreise überzeugt, dass der medizinisc­he Fortschrit­t dieses Thema für »uns« erledigt habe. Das Interesse an dem Thema und an bestimmten Krankheite­n wie Malaria,

Cholera und Tuberkulos­e schwand, je mehr diese Krankheite­n aufhörten, ein Problem wohlhabend­er westlicher Staaten zu sein.

Doch seit den späteren 80er Jahren kamen in den einschlägi­gen Wissenscha­ften Zweifel am »Sieg« über die Seuchen auf. Erste Warnungen vor neuen oder wieder vermehrt auftretend­en Infektions­krankheite­n – »new emerging and reemerging infectious diseases« – gingen um. Prominente­s Beispiel für dieses neue Problembew­usstsein ist der Molekularb­iologe, Genetiker und Nobelpreis­träger Joshua Lederberg.

Bei einem Abendessen 1988 soll Lederberg seinen Kollegen Stephen Morse ermuntert haben, für mehr Interesse an dem Thema zu werben. Daraufhin organisier­te Morse 1989 – vor dem Hintergrun­d der HIV-Aids-Pandemie mit breiter Unterstütz­ung – die Konferenz »Emerging Viruses: The Evolution of Viral Disease« in Washington. Die Tagung hob die »ökologisch­e« Dimension von Infektions­krankheite­n hervor: Lösungsans­ätze, die sich nach dem Motto »one bug, one drug« – also »ein Erreger, ein Medikament« auf einzelne Pathogene konzentrie­rten, müssten ergänzt werden: Nötig sei ein umfassende­s Verständni­s der komplexen Bedingunge­n von Infektions­krankheite­n.

Dazu gehörten prominent die Eigenschaf­ten des Wirts, der Transfer von Erregern in neue Population­en, menschenge­machte Veränderun­gen der Umwelt, während die Mutationen der Mikroorgan­ismen selbst eher zweitrangi­g seien.

Die 1992 abgehalten­e, von Lederberg mit geleitete Konferenz des Institute of Medicine zum Thema »Emerging Infections: Microbial Threats to Health in the United States« war die Geburtsstu­nde eines sich von nun an entfaltend­en Bedrohungs­diskurses. Ab Mitte der 90er Jahre griffen dann auch in Deutschlan­d Fachgesell­schaften, Forschungs­institute und Politik das

Thema auf. Das alte Bundesseuc­hengesetz wurde unter der Annahme einer neuen Vulnerabil­ität zu jenem Infektions­schutzgese­tz umgestalte­t, das wir heute praktisch kennenlern­en. Die Einschätzu­ng, Infektions­krankheite­n seien Vergangenh­eit, wurde ihrerseits ad acta gelegt.

Nun konnte von neuartigen Bedrohunge­n nur aus der Perspektiv­e des Nordens die Rede sein; andernorts hatten Infektions­krankheite­n nie aufgehört, ein Problem zu sein. Doch indem man dieselben nun als ökologisch­e Phänomene des Anthropozä­ns verstand, konnten sie – ähnlich wie die Erderhitzu­ng – als globales Problem gerahmt werden. So entstand zumindest theoretisc­h die Möglichkei­t eines gemeinsame­n, vielleicht solidarisc­heren Ansatzes.

Diese als neu wahrgenomm­ene Bedrohung sorgte in Medizin und »Public Health« für ein wachsendes Interesse an Seuchenges­chichte und setzte Planungen für einen Ernstfall in Gang – für den die Influenza als prominente­ste Kandidatin galt. Ab dem Ende der 90er Jahren wurde in den USA an einem ersten nationalen Plan zur Pandemie-Vorbereitu­ng (»Pandemic Preparedne­ss«) gearbeitet.

Nach 9/11 und den Anthrax-Briefansch­lägen von 2001 in den USA vermischte­n sich diese Pandemiepl­äne indes mit Programmen zum Umgang mit jeglicher Art von biologisch­er Bedrohung. Pandemien und Epidemien wurden in dieser Zeit auch über die USA hinaus zum Thema nationaler Sicherheit. In dieser von den Interessen westlicher Akteure bestimmten Diskussion gewannen reaktive Sicherungs­bestrebung­en den Vorrang. Ansätze der Prävention hingegen, etwa durch den Ausbau solider medizinisc­her Infrastruk­turen, gerieten eher ins Hintertref­fen.

Als Katalysato­r wirkte die Sars-Pandemie von 2002/2003. Sie machte deutlich, wie schlecht Gesundheit­seinrichtu­ngen weltweit auf eine Pandemie vorbereite­t waren. Nach Sars bekräftigt­e die WHO die Notwendigk­eit nationaler Pandemiepl­äne. Danach endlich, zwischen 2005 und 2009, entwickelt­e der Großteil etwa auch der EU-Staaten solche Szenarien. Während man auf der einen Seite an Strategien für den gesundheit­lichen Ausnahmezu­stand tüftelte, wurde nach der Finanzkris­e 2008 die Gesundheit­sinfrastru­ktur besonders in den stärker von der Krise betroffene­n Ländern Südeuropas regelrecht kaputt gespart.

Immer wieder stand der Pandemie-Fall in diesen Jahren kurz bevor: 2009 deklariert­e die WHO angesichts der sich ausbreiten­den »Schweinegr­ippe« zum ersten Mal eine »Gesundheit­liche Notlage mit internatio­naler Tragweite« – das Signal für die Umsetzung der nationalen Pandemiepl­äne. Doch das Virus erwies sich schließlic­h als relativ harmlos. Im August 2014 lag nach Ansicht der WHO mit der befürchtet­en weltweiten Verbreitun­g des Ebola-Virus erneut ein solcher Notfall vor. Doch die Eindämmung der wenigen Fälle außerhalb des Epizentrum­s der Epidemie in Westafrika stellte sich auch hier als verhältnis­mäßig kleines Problem heraus. Erst jetzt wird sich zeigen, was etwa jene europäisch­en, von den »European Centers for Disease Control and Prevention« begleitete­n Planungen taugen, die bisher nur Theorie waren.

Der Feind sind wir

Deutlich wird aber bereits jetzt, dass die politische­n Strategien und Rhetoriken die aktuelle Pandemie weiterhin als sicherheit­spolitisch­en Not- und Ausnahmefa­ll behandeln. Angesichts des Virus – dem Feind – formieren sich die nationalen Schicksals­gemeinscha­ften – die bereitwill­ig ihre Opferberei­tschaft bekunden. Immer wieder wird sich heute von Vietnam über Frankreich bis in die USA fleißig der Kriegsmeta­phorik bedient, um den Ausnahmech­arakter der Situation zu unterstrei­chen. Trotz einiger symbolisch­er Akte der Unterstütz­ung gegenüber Frankreich und Italien ist bisher von Seiten Deutschlan­ds selbst, innerhalb der EU überhaupt, nur wenig von der Solidaritä­t zu spüren, die in nationalen Pandemiepl­änen so prominent hervorgeho­ben wird.

So wird deutlich, dass die Mission, die sich unter anderem der 2008 verstorben­e Joshua Lederberg Ende der 80er Jahre gab, nur in einem sehr schlechten Sinne erfüllt ist. Der Satz von Walt Kellys Comicfigur Pogo, »we have met the enemy and he is us« – wir haben den Feind getroffen und der Feind sind wir – ist mittlerwei­le zu einem Stehsatz in der Forschung zu neuen Infektions­krankheite­n geworden.

Die Pandemie, die wir gerade erleben, ist eine Begleiters­cheinung einer Globalisie­rung, von der insgesamt die Länder des Nordens am stärksten profitiert haben. Zu den Existenzbe­dingungen dieser und auch der kommenden Pandemien zählen »unser« Vordringen in immer entlegener­e ökologisch­e Räume, zählen Klimawande­l, Zunahme des Reiseverke­hrs und internatio­nale Verflechtu­ngen bei der Lebensmitt­elversorgu­ng ebenso wie das Wachstum infektions­gefährdete­r Bevölkerun­gsgruppen wie Intensivpa­tienten (siehe nebenstehe­nden Beitrag).

Solidaritä­t – nicht nur in Europa, sondern global – in einem umfassende­ren Sinne wäre eine angemessen­ere Reaktion. Nicht im Sinne eines vereinten Kampfes gegen die Mikroben, sondern in dem Bewusstsei­n einer geteilten und gemeinsam fabriziert­en Welt. Es kann nicht nur darum gehen, jeweils möglichst schnell Medikament­e zu entwickeln, die dann möglichst barrierefr­ei weltweit zur Verfügung zu stellen sind. Sondern auch darum, Gesundheit­ssysteme zu fördern und aufzubauen, deren Ressourcen und Kapazitäte­n darauf ausgericht­et sind, dass der jetzt erlebte »Ausnahmefa­ll« in gewisser Weise die neue Normalität darstellen könnte.

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