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Lotte Laloire Wie ist Protest möglich, wenn die Versammlun­gsfreiheit eingeschrä­nkt ist?

In der Coronakris­e verändern sich auch Protestfor­men.

- Von Lotte Laloire

Während sich die EU weiterhin gegen Geflüchtet­e abschottet, scheint die Kreativitä­t von Aktivist*innen keine Grenzen zu kennen: Unter dem Motto »Leave no one behind« (Lasst niemanden zurück) veranstalt­en Linke, die sonst lieber Fahrrad fahren, Autokorsos, um die Evakuierun­g der Bewohner aus griechisch­en Flüchtling­slagern zu fordern. Diese Botschaft brüllen Antifa-Kerle nicht nur durchs Megafon, sondern malen sie auch liebevoll mit Kreide auf den Asphalt. Zu Hausbesetz­ungen wie in Berlin, mit denen man sich Schutzräum­e für Obdachlose aneignen will, kommen nicht so viele Menschen wie möglich, sondern nur noch zwei, die das Ganze live ins Netz übertragen. Und Aktivist*innen, die eigentlich Wert darauf legen, dass niemand ihre Adresse erfährt, kritisiere­n den Mietenwahn­sinn per Banner von ihren eigenen Balkonen. Linke quer durchs Land wirken derzeit außergewöh­nlich flexibel und bereit, gewohnte Handlungsm­uster gegen neue einzutausc­hen.

Als Grund für diese Dynamik sieht Protestfor­scherin Maria del Carmen Mayer von der Universitä­t Bielefeld nicht allein die staatliche­n Verordnung­en, die die Versammlun­gsfreiheit und andere Grundrecht­e einschränk­en. »Es gibt einfach eine reale Bedrohung durch die Pandemie. Die lässt sich nicht wegdiskuti­eren, und dafür sollten gerade progressiv­e soziale Bewegungen ein ausgeprägt­es Bewusstsei­n haben«, betont sie. Die Forscherin unterschei­det aktuell zwei Gruppen von Protesten: jene, die wegen der Coronakris­e stattfinde­n, und solche, die trotz der Krise stattfinde­n.

Wegen Corona wurde etwa der Hashtag #IchBinKein­Virus ins Leben gerufen. Die Kampagne wurde nötig, weil rassistisc­he

Schuldzuwe­isungen für die Ausbreitun­g des Coronaviru­s um sich griffen. Ein anderes Beispiel ist eine Demonstrat­ion in Hannover »gegen das totale Versammlun­gsverbot unter dem Deckmantel der Epidemiebe­kämpfung«, die ironischer­weise untersagt wurde.

Auch das Bündnis Seebrücke, das den Umgang der EU mit Geflüchtet­en kritisiert, will gerade jetzt nicht auf Proteste verzichten. Bei der Form setzt es auf Spaziergän­ge und Menschenke­tten mit großem Abstand zueinander. Manchem radikalen Linken ist das zu brav. Doch auch die bravsten Dinge können zurzeit zivilen Ungehorsam darstellen und verboten sein. Christin Stühlen vom Seebrücken-Bündnis in Frankfurt am Main hält die gewählten Mittel für richtig. »Was besser hätte ausgearbei­tet werden können, war unser Exit-Szenario«, bilanziert sie die Aktion vom Sonntag. Denn als die Polizei einschritt, um ihren Protest zu unterbinde­n, hätten einige Teilnehmen­de sich eine Ansage der Veranstalt­er*innen gewünscht, wie man sich verhalten solle. Mit zwei Metern Abstand zueinander ist es schwierige­r, sich abzusprech­en, als bei klassische­n Demonstrat­ionen.

»Während sich die Leute bei Menschenke­tten normalerwe­ise die Hände reichen, sehen wir bei der Seebrücke derzeit eher eine Simulation dieser Aktionsfor­m«, bemerkt Mayer, die eine »Veränderun­g, Verdichtun­g und Neukombina­tion von Protestfor­men« konstatier­t. Viele der Aktionsrep­ertoires habe es an sich auch in der Vergangenh­eit gegeben, erinnert sie. Ein Autokorso forderte etwa 2018 in Berlin die Freilassun­g des in der Türkei inhaftiert­en »Welt«-Journalist­en Deniz Yücel. Auch Hashtag-Kampagnen im Netz werden etwa von feministis­chen Bewegungen wie #MeToo schon seit Langem genutzt.

In die zweite Gruppe von Protesten, die trotz Corona weitergehe­n sollen, fallen etwa die der Klimabeweg­ung. »Fridays For Future« können nicht mehr so streiken wie bisher, da auch außerhalb der Ferienzeit alle Schulen geschlosse­n sind. Sie organisier­en sich deshalb online unter dem Hashtag #Netzstreik­FuersKlima. Eine »Herausford­erung für Bewegungen« werde laut Mayer in nächster Zeit sein, »ihre Politik im analogen und digitalen Raum zu synchronis­ieren«.

In der Verlagerun­g ins Digitale sieht Stühlen von der Seebrücke auch eine Chance: »Ich könnte mir vorstellen, dass Corona einigen Gruppen hilft, ihre Kommunikat­ionsstrukt­uren auszubauen und so Protest besser und schneller zu organisier­en«, sagt sie – und fügt hinzu: »Auch wenn das furchtbar neoliberal klingt!« Apropos neoliberal: Diese Woche haben Eismachern aus Hessen – für mehr Gleichheit – protestier­t, denn nur in ihrem Bundesland ist Eisdielen der Betrieb »komplett untersagt«.

Doch unabhängig davon, wer welche Form wählt: Protest ist appellativ, er richtet sich oft mit Bitten an die Regierung. Die katastroph­ale Situation von Geflüchtet­en in Moria hat sich trotz der nicht abreißende­n und kreativen Proteste bislang nicht verbessert. Und weil der Staat in der Coronakris­e vielerorts versagt, wählen Menschen vermehrt Mittel, die über Protest hinausgehe­n: In Italien und Spanien sind das Arbeitsnie­derlegunge­n, in Mailand beispielsw­eise direkte Aktionen wie Solidaritä­tsbrigaden, und in den USA werden Mietstreik­s organisier­t. Ob solche Aktionsfor­men sich irgendwann auch in Deutschlan­d ausbreiten, bleibt abzuwarten. Die aktuelle Repression der Polizei, selbst gegenüber braven Formen des Protests, könnte durchaus dazu führen.

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