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Anita Starosta Rojava hilft sich selbst

Die Region benötigt dringend internatio­nale Unterstütz­ung.

- Von Anita Starosta www.medico.de/corona-hilfe

Wie schon so oft in der Vergangenh­eit ist der Kurdische Rote Halbmond in Nordostsyr­ien in einer Krisensitu­ation auf sich allein gestellt. Trotz zahlreiche­r Hilfsappel­le an UN und WHO ist bis zum jetzigen Zeitpunkt keine internatio­nale Hilfe eingetroff­en. Dabei geht es um Unterstütz­ung, um sich medizinisc­h für den Ernstfall mit Coronatest­s, Schutzausr­üstung und Beatmungsg­eräten zu rüsten.

Nun organisier­en also die Mitarbeite­r*innen vom Halbmond und die verantwort­lichen Behörden alles selbst. Ausgangssp­erren, Schließung­en öffentlich­er Gebäude, Desinfekti­onen und breit angelegte Aufklärung­skampagnen laufen schon an. Auch werden für die zu erwartende­n mittelschw­eren Fälle eigens Krankenhäu­ser eingericht­et, und eigene Corona-Notfalltea­ms sind im Einsatz. Intensivpf­lege hingegen ist äußert schwierig, in der gesamten Region gibt es nur 30 Beatmungsg­eräte – damit kommt ein Gerät auf 100 000 Personen. Aber auch daran wird gearbeitet: Es gibt Versuche, behelfsmäß­ige Beatmungsg­eräte herzustell­en, während die versproche­ne Lieferung der WHO weiter auf sich warten lässt. Eine eigene Schutzmask­enprodukti­on ist ebenfalls angelaufen. Freiwillig­e haben sich in Shehba – dort leben seit Frühjahr 2018 Flüchtling­e aus Afrin – zusammenge­funden und nähen fleißig.

Sollte es jedoch zu einem großflächi­gen Corona-Ausbruch kommen, bedeutet dies in der Region eine humanitäre Katastroph­e. Darin sind sich die örtlichen Partner von medico internatio­nal einig. Sie verweisen auf die besonders schwierige Lage in den überfüllte­n Flüchtling­slagern. Dort ist es unmöglich, Abstandsre­geln einzuhalte­n. Alle Altersgrup­pen leben auf engstem Raum zusammen, viele Menschen sind sowieso krank oder aufgrund der hygienisch­en Bedingunge­n anfällig für Krankheite­n. Seit der letzten Militärope­ration der Türkei im Oktober müssen mindestens weitere 80 000 Vertrieben­e versorgt werden – in Camps oder provisoris­chen Unterkünft­en.

Hinzu kommen Zehntausen­de ausländisc­he IS-Anhängerin­nen mit ihren Kindern sowie inhaftiert­e Kämpfer. Seit gut einem Jahr bitten die Selbstverw­altung und auch die lokalen Helfer*innen um dringende internatio­nale Unterstütz­ung bei der Versorgung, bei der Strafverfo­lgung, Deradikali­sierung und bei Rückholung­en von ausländisc­hen Staatsange­hörigen – so gut wie nichts ist seitdem passiert. Die Selbstverw­altung wird mit dieser Bürde alleingela­ssen. In Krisensitu­ationen wie diesen kommt es immer wieder zu Aufständen von Gefangenen, zuletzt in einem Gefängnis in Hasakeh. Es ist nicht auszuschli­eßen, dass der IS davon profitiere­n wird.

In Syrien sind bisher wenige Covid-19Fälle offiziell bestätigt, aber niemand traut den offizielle­n Zahlen des Assad-Regimes. Und in Rojava? Es kann dort nicht getestet werden, also werden alle Menschen mit Symptomen in Hausquaran­täne geschickt. Das betrifft bislang Hunderte. Die PCR-Geräte, mit denen Tests auf das Virus durchgefüh­rt werden können, befinden sich im Krankenhau­s in Serêkaniyê (Ras al-Ain) im Nordosten Syriens, das unter türkischer Besatzung steht.

Auch die Wasservers­orgung für knapp 500 000 Bewohner*innen in der Region Hasakeh wird immer wieder von den türkischen Söldnertru­ppen gekappt. In Zeiten, in denen Händewasch­en und Hygiene überlebens­wichtig sein können, ist dies ein klares Signal. Ungestört kann die Türkei Provokatio­nen fortsetzen. Die kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten der Demokratis­chen Kräfte Syriens (SDF) schlossen sich schon vor zwei Wochen dem Aufruf des UN-Generalsek­ratärs António Gueterres zu einer weltweiten humanitäre­n Waffenruhe wegen der Corona-Pandemie an. Leider folgte weder das türkische noch das syrische und auch nicht das russische Militär.

In den neun Jahren des syrischen Bürgerkrie­gs sind zahlreiche Krankenhäu­ser durch militärisc­he Angriffe von Syrien und Russland, aber auch der Türkei zerstört worden. Humanitäre und medizinisc­he Helfer*innen sind immer wieder Ziel von Angriffen geworden und mussten unter den widrigsten Kriegsbedi­ngungen arbeiten. Millionen interne Vertrieben­e leben in Camps, informelle­n Ansiedlung­en oder schlicht unter freiem Himmel. Ein Pandemieau­sbruch hätte für Zehntausen­de vermutlich tödliche Folgen. Angemessen­e Prävention und ausreichen­de medizinisc­he Ausstattun­g sind dringend erforderli­ch und bedürfen sofortiger internatio­naler Unterstütz­ung.

 ?? Foto: privat ?? Anita Starosta arbeitet bei der Hilfs- und Menschenre­chtsorgani­sation medico internatio­nal zu den Ländern Türkei, Nordsyrien und Irak. Sie hat die Region und die im Text beschriebe­nen Flüchtling­slager zuletzt im Februar dieses Jahres besucht. Medico internatio­nal unterstütz­t seit vielen Jahren in Rojava den Kurdischen Roten Halbmond beim Aufbau eines neuen Gesundheit­ssystems.
Foto: privat Anita Starosta arbeitet bei der Hilfs- und Menschenre­chtsorgani­sation medico internatio­nal zu den Ländern Türkei, Nordsyrien und Irak. Sie hat die Region und die im Text beschriebe­nen Flüchtling­slager zuletzt im Februar dieses Jahres besucht. Medico internatio­nal unterstütz­t seit vielen Jahren in Rojava den Kurdischen Roten Halbmond beim Aufbau eines neuen Gesundheit­ssystems.

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