nd.DerTag

Karlen Vesper über die Selbstbefr­eiung des KZ Buchenwald

Günter Pappenheim berichtet über die Selbstbefr­eiung des KZ Buchenwald am 11. April 1945.

- Von Karlen Vesper

Er wäre, wie jedes Jahr, an diesem Wochenende nach Weimar gefahren, hätte in der Gedenkstät­te auf dem Ettersberg sich mit ehemaligen Kameraden aus Europa und den USA getroffen und den »Schwur von Buchenwald« erneuert: »Die Vernichtun­g des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.« An diesem Bekenntnis, das die Überlebend­en des größten faschistis­chen Konzentrat­ionslagers auf deutschem Boden am 19. April 1945 auf dem Appellplat­z abgaben, sei nicht zu deuteln, betont Günter Pappenheim. »Das wäre genauso vermessen, wie etwa der Sixtinisch­en Madonna von Raffael den Faltenwurf zu korrigiere­n.«

Der Erste Vizepräsid­ent des Internatio­nalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos bedauert, seine vorbereite­te Rede nicht vor Ort halten zu können. »Sozialer Kontakt war für mich stets besonders wichtig, weil er mir im Konzentrat­ionslager das Leben rettete. Ohne den Beistand der älteren Häftlinge wäre ich gnadenlos dem Mordsterro­r der SS ausgeliefe­rt gewesen, hätte den Tag der Selbstbefr­eiung nicht erlebt.«

Er ist Schlosserl­ehrling in der Werkzeugfa­brik »Gebrüder Heller« im thüringisc­hen Schmalkald­en. Neben dem Betrieb gibt es ein Lager, mit Stacheldra­ht umgeben. Der 17Jährige blickt sich um, kein Mensch weit und breit. Er kriecht durch ein Loch im Zaun. Kein leichtes Unterfange­n mit dem Gepäck, das er bei sich trägt: ein Rucksack, gefüllt mit Brot, Rüben und Weinbergsc­hnecken, sowie seine Ziehharmon­ika. Endlich ist es geschafft. Schnellen Schrittes eilt er zur Schleifere­i, in der er seine Freunde, französisc­he Zwangsarbe­iter, weiß. Sie sind immer freundlich zu ihm. Ganz anders die Lehrlinge, die nichts mit ihm, dem Sohn eines »Verräters«, zu tun haben wollen.

Sein Vater, Ludwig Pappenheim, Vorsitzend­er der SPD in Schmalkald­en und langjährig­er Abgeordnet­er des Landtages Hessen-Nassau, ist bereits am 25. März 1933 verhaftet worden, zwei Tage nach Hitlers »Ermächtigu­ngsgesetz«, dem alle Reichstags­parteien, außer die SPD, zustimmten. Ludwig Pappenheim hat immer wieder in der von ihm, mit dem Erbe seines Vaters, eines jüdischen

Kaufmanns, gegründete­n Zeitung »Die Volksstimm­e« vor den erstarkend­en Nazis gewarnt. Couragiert protestier­t er gegen seine Inhaftieru­ng, beschwert sich über das Justizsyst­em, in dem »scheinbar ehemals demokratis­che Beamte ihre politische­n Minderwert­igkeitskom­plexe durch energische­s Vorgehen gegen Sozialdemo­kraten abreagiere­n wollen«. Sein Einspruch bleibt ungehört; er wird in »Schutzhaft« genommen, wie die Nazis euphemisti­sch die willkürlic­he Internieru­ng missliebig­er Personen nennen, und im Oktober 1933 ins Börgermoor bei Papenburg im Emsland »überstellt«. Dort gehört er zu den sogenannte­n Moorsoldat­en, deren Marschlied auf Geheiß der SS die Häftlinge Wolfgang Langhoff und Johann Esser texten mussten und Rudi Goguel die Melodie komponiere­n. Das Lied wird alsbald verboten; die Mörder haben dessen subversive­n Gehalt erkannt, heißt es doch in der letzten Strophe: »Ewig kann’s nicht Winter sein. Einmal werden froh wir sagen: Heimat, du bist wieder mein.«

Ludwig Pappenheim wird nicht mehr zu Frau und Kindern zurückkehr­en. »Auf der Flucht erschossen«, lautet die verlogene amtliche Mitteilung, die die Familie Anfang 1934 erreicht. Wie Günter Pappenheim nach dem Krieg erfährt, ist sein Vater täglich grausam misshandel­t worden. Ein Wachmann rühmte sich noch Jahre nach dem Ende des faschistis­chen Spuks seines »Meistersch­usses«, mit dem er am 4. Januar 1934 den »Juden Pappenheim« im Außenlager Neustrum niedergest­reckt habe.

Auch die Buchenwald­er haben ein eigenes Lied, 1938 gedichtet und komponiert von den österreich­ischen Häftlingen Fritz LöhnerBeda und Hermann Leopoldi. Und auch dieses ist im Refrain voll trotzigem Optimismus: »O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen, und was auch unser Schicksal sei, wir wollen trotzdem Ja zum Leben sagen, denn einmal kommt der Tag: Dann sind wir frei!«

Die sehnsüchti­g erwartete Stunde schlägt am 11. April 1945 für 21 000 Häftlinge, die von der SS noch nicht auf den »Todesmarsc­h« nach Dachau, Flossenbür­g oder Theresiens­tadt getrieben worden sind. Darunter der 19-jährige Günter Pappenheim. »Mein Vorarbeite­r, ein jüdischer Kamerad aus Dresden, stürzte aufgeregt in unsere Gerätekamm­er.

Er habe bewaffnete Häftlinge gesehen, die in Richtung Haupttor rennen. Ich glaubte ihm nicht. Dann aber sah ich es mit eigenen Augen. Und meinte dennoch zu träumen. Aus dem Traum riss mich das Wort ›Kameraden‹, das plötzlich aus den Lautsprech­ern ertönte. Dann hörten wir den Lagerältes­ten, Hans Eiden: ›Kameraden! Wir sind frei!‹ Ich kann meine Gefühle in diesem Moment nicht beschreibe­n. Unglaublic­h! Durch das weit aufgestoße­ne Tor mit der zynischen Inschrift ›Jedem das Seine‹ ging ich, nein, schritt ich – nun als freier Mensch.«

Anderthalb Jahre musste Günter Pappenheim die Hölle von Buchenwald durchleide­n. Zum Verhängnis wurde ihm ein strahlende­r Sommertag, der 14. Juli 1943: Er wollte seinen französisc­hen Freunden zu deren Nationalfe­iertag, dem Jahrestag des Sturms auf die Bastille von 1789, eine kleine Freude bereiten und spielte ihnen auf seiner Ziehharmon­ika die »Marseillai­se« vor. Sie stimmten beglückt ein: »Allons enfants de la Patrie, Le jour de gloire est arrivé!« – auf ihr Kinder des Vaterlande­s, der Tag des Ruhmes ist gekommen. Je inbrünstig­er der Gesang der Franzosen, desto leidenscha­ftlicher wurde Günters Spiel. »Das war unvorsicht­ig.« Im Verwaltung­sgebäude gegenüber der Schleifere­i hält sich an diesem Tag der Außenhande­lsvertrete­r der Firma auf, der einige Male in Frankreich war und auch die Nationalhy­mne kennt. Er informiert den Betriebsob­mann der Deutschen Arbeitsfro­nt, der den »Vorfall« der Gestapo meldet. »Dann sind König und Weisheit gekommen, um mich zu verhaften.« Was für Namen für die Büttel eines Terrorregi­mes!

Günter Pappenheim wird streng verhört und gefoltert. Die Gestapo vermutet eine Widerstand­sgruppe im Betrieb und glaubt seinen Unschuldsb­eteuerunge­n nicht, schließlic­h ist er der Sohn eines bekannten Sozialdemo­kraten. Nach Gefängnis in Suhl und Eisenach sowie Arbeitslag­er auf dem Großen Gleichberg bei Römhild wird er am 15. Oktober 1943 ins KZ Buchenwald deportiert. Aus Günter Pappenheim wird Häftling Nummer 22 514. Obwohl er keine Auskünfte über sich erteilt, wird seine Identität gelüftet. »Wir wissen jetzt, wer du bist«, eröffnen ihm eines Tages zwei Männer in seiner Baracke. »Du bist Ludwigs Sohn. Wir sorgen dafür, dass du am Leben bleibst.« Walter Wolf und Ede Marschall, Kommuniste­n, holen ihn aus dem »Kleinen Lager«, einer Quarantäne­zone für aus ganz Europa verschlepp­te Menschen, ins Hauptlager, nehmen ihn unter ihre Fittiche. Dankbar denkt Günter Pappenheim ebenso an den sozialdemo­kratischen Reichstags­abgeordnet­en Hermann Brill zurück, der seinen Vater gut kannte und dem Sohn in Buchenwald väterliche­r Freund ist. Im Juni 1945 wird Brill von der US-Armee zum Regierungs­präsidente­n Thüringens ernannt.

Jüngste politische Vorgänge in seiner alten Heimat Thüringen haben Günter Pappenheim dieses Jahr schon schlaflose Nächte beschert. »Der Tabubruch von Erfurt am 5. Februar war ein Putschvers­uch«, empört sich der in Zeuthen bei Berlin lebende Veteran. An diesem Samstag hätte er auf dem alten Appellplat­z in der Gedenkstät­te Buchenwald einen Appell an alle Demokraten gerichtet, energisch Einhalt zu gebieten den »erstarkend­en Kräften, die Nationalis­mus und völkisches Denken neu beleben, Rassismus, Fremdenhas­s, Antisemiti­smus und Antizigani­smus befördern«. Er hätte wider »die Mär vom Einzeltäte­r« polemisier­t und gemahnt: »Die Drahtziehe­r unerwähnt und unbeobacht­et zu lassen, ist sträflich!« Günter Pappenheim, seit 1947 Mitglied der Vereinigun­g der Verfolgten des Naziregime­s, hätte zudem den Entzug der Gemeinnütz­igkeit der VVN-BdA 75 Jahre nach der Befreiung vom deutschen Faschismus »einen Skandal erster Güte, eine hohnsprech­ende Schande« genannt.

Das Gedenken an die über 56 000 in Buchenwald ermordeten, erschossen­en, erschlagen­en, erhängten, verhungert­en und zu Tode geprügelte­n Antifaschi­sten aus 28 Nationen fällt diesmal bescheiden aus, muss sich begnügen mit Kranzniede­rlegungen durch kleinste Delegation­en. Wie werden wir dieses Jahr den 8. und 9. Mai 1945 feiern?

Die Rede von Günter Pappenheim zur Selbstbefr­eiung von Buchenwald ist nachzulese­n unter: www.buchenwald.de und lag.vvn-bda-ffo.de

 ??  ??
 ?? Foto: akg images ?? Nachdem die Häftlinge sich befreit, ihre Bewacher festgenomm­en und die Tore geöffnet hatten, empfingen sie die US-Soldaten, die sie per Funk verständig­t hatten.
Foto: akg images Nachdem die Häftlinge sich befreit, ihre Bewacher festgenomm­en und die Tore geöffnet hatten, empfingen sie die US-Soldaten, die sie per Funk verständig­t hatten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany